Kernkraft ist wieder salonfähig. Statt AKW zu ignorieren, werden sie nun schlecht gerechnet.
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Lange wurde die Bedeutung von AKW für die Energiewende ignoriert.
Jetzt sind wir einen Schritt weiter: AKW werden schlecht gerechnet 😉
Fraunhofer ISE hat zum 1. Mal in einem Energiewende-Modell AKW berücksichtigt.
In ihrer neuen Studie befinden die Solarforscher, AKW seien zu teuer.
Grund dafür ist ein Zirkelschluss: Sie nehmen an, dass AKW zu teuer sind.
Fraunhofers 9.000 €/kW Kapitalkosten übersteigen selbst die 6.900 €/kW eines Prototypen in Finnland.
Aber nicht alle substanzlosen Berechnungen sind so einfach zu durchschauen.
Hier sind 5 systematische Beispiele für Rechentricks und Bad Science
1. Kaum Kernkraft-Anteil oder zu viele AKW
Jahrelang haben die deutschen Energiewende-Studien die Kernkraft von vornherein ausgeschlossen. Damit kommen sie wohl nicht mehr durch.
Aber auch unter Berücksichtigung der Kernkraft lässt sich tricksen, zum Beispiel indem man zu wenige oder viel zu viele AKW annimmt.
Die europaweite Studie von Pickering et al. bemängelt den Tunnelblick anderer Modellierungen, aber lässt europäische AKW nur in Finnland und Frankreich zu. 1
Idel geht den umgekehrten Weg und lässt in Texas und Deutschland nur Kernkraft-Anteile von 100% oder 95% zu. 2 Nicht einmal AKW-Fans fordern so ein Energiesystem.
Thellufsen et al. 3 machen beides zugleich und rechnen für Dänemark (vergleichbar mit Niedersachsen) entweder nur 1 GW oder gleich 7,5 GW AKW. Letzteres ist weit über der dänischen Grundlast für 2050, wie sie selbst berechnen.
Es gibt einen kostenoptimalen Anteil von Kernenergie an der Stromerzeugung und der liegt üblicherweise bei um die 30% – nicht 10% und eben auch nicht 90%.
2. Fehlende Kosten für den Netzausbau
Viele Modellierungen lassen den Netzausbau bei der Kostenoptimierung weg. Das liegt daran, dass dessen Modellierung besonders anspruchsvoll ist.
Das entschuldigt aber nicht die Kosten des Netzausbaus auch in der nachfolgenden Kostenaufstellung wegzulassen. Die Netze sind ein essentieller Bestandteil des Ausbaus von Wind und Solar.
Auch Brandes et al. 4 stellen fest, wie wichtig vor allem der Übertragungsnetzausbau für Deutschland ist. Dessen Kosten berücksichtigen sie aber nicht.
Thellufsen et al. fallen auch hier negativ auf und rechnen so als wäre ganz Dänemark eine Kupferplatte, über zwei Gebotszonen und mehr als 400 Inseln hinweg.
Bei der deutschen Energiewende sollen bis 2045 mehr als 500 Milliarden Mehrkosten durch den Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze für Strom anfallen, sogar 600 Milliarden inklusive Wasserstoff, CO2- und Wärmenetz. 5
Das macht in Deutschland etwa ein Viertel der gesamten Mehrkosten der Energiewende aus. So einen riesigen Kostenblock einfach wegzulassen ist hochgradig unseriös.
3. Unrealistische Kapitalkosten
Fraunhofer ISE machen netterweise sehr deutlich, dass sie mit 9.000 €/kW unrealistisch hohe Kapitalkosten ansetzen.6 Oft sind unzutreffende Annahmen besser versteckt.
Auch das FZ Jülich will in einer bald erscheinenden Studie AKW berücksichtigen. Sie behaupten der Bau neuer AKW sei “nicht wettbewerbsfähig”. Ihre bereits vorliegenden Folien zeigen hingegen einen Ausbau der Kernkraft um den Faktor 5 bei Kapitalkosten unter 6.600 €/kW.7
Der EPR-Prototyp Olkiluoto in Finnland kostete 6.900 €/kW inklusive Finanzierung, bei 18 Jahren Bauzeit! Im Serienbau mit einer normalen Bauzeit von 8 Jahren schrumpfen diese Kapitalkosten deutlich unter 6.600 €/kW. Bei den grob berechneten Ergebnissen aus Jülich ist leider unklar, ob ein enormer AKW-Ausbau bei 6.599 €/kW einsetzt oder erst bei 4.400 €/kW.
Ein schwer erkennbarer Rechentrick sind Abzinsfaktoren. Unrealistisch hohe Abzinsfaktoren treffen AKW wegen ihrer langen Laufzeiten härter als kurzlebige Energiequellen. Price et al. strafen AKW mit 9% Abzinsfaktor ab, während Erneuerbare mit 5% gerechnet werden.8
Verschiedene Abzinsfaktoren nutzt auch Fraunhofer ISE bei der Berechnung der Gestehungskosten von AKW mit 10% Abzinsfaktor statt 5-6% bei Erneuerbaren.9 Das verdoppelt die Gestehungskosten für AKW ungefähr. Sie senken außerdem den Kapazitätsfaktor von AKW auf bis zu 23% (!) statt der in Deutschland üblichen 90%. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Es geht hier um klimaneutrale Energiequellen, welche in Deutschland höher subventioniert werden als in den meisten anderen Ländern. Es gibt keinen Grund, extrem hohe oder gar verschieden hohe Abzinsfaktoren für favorisierte Energiequellen anzusetzen.
4. Overnight Costs statt Kapitalkosten
Ein Rechentrick für Fortgeschrittene ist die Verwendung von Overnight Capital Costs statt der gebräuchlichen Capital Costs. Die sind niedriger als die Kapitalkosten, weil sie die Finanzierungskosten der Bauphase ausschließen. 10
Bei Reaktor-Prototypen mit jahrelanger Verzögerung explodieren diese Finanzierungskosten in der Bauphase. Der EPR in Flamanville hat 4.013 €/kW Overnight Costs, aber mehr als doppelt so hohe 8.620 €/kW Capital Cost, wegen 17 Jahren (!) Bauzeit.
Die Forscher Göke, Wimmers und Hirschhausen nutzen diesen Effekt und weisen nur Overnight Costs aus. Laut ihrem Modell stammen bei 3.000 €/kW Overnight Costs rund 25% der europäischen Stromerzeugung aus AKW und bei 4.000 €/kW sind es noch 10%. 11
4.000 €/kW “Kapitalkosten” scheint unerreichbar niedrig für AKW. Da das aber Overnight Costs sind, nimmt selbst Flamanville diese Kostenhürde – einer der teuersten Reaktoren. Auch 3.500 €/kW oder gar 3.000 €/kW Overnight Costs sind mit weniger aufwändigen Reaktortypen als dem EPR erreichbar, zum Beispiel EPR-2 oder APR-1400.
Göke et al. rechnen AKW noch teurer, indem sie unrealistische Laufzeiten annehmen mit 40 statt 30 Jahren für Solar und 40 statt 60 Jahren für AKW. Auch ihre für die Zukunft erwarteten Photovoltaik-Kapitalkosten von 271 €/kW sind unerreichbar. Selbst wenn die Kosten von Solarmodulen auf 0 fallen sollten, werden Solarparks nicht so günstig.
Das ist bereits ein wiederholter Versuch eines Teams um Hirschhausen bei den Kosten von AKW zu tricksen. 12 Christian von Hirschhausen ist ein bekannter deutscher Atomkraftgegner.
5. Fehlerhafte Modellierungen
Bisher ging es vor allem um unrealistische Annahmen. Aber nicht nur die Inputs einer Energiesystem-Studie können daneben liegen. Im Modellierungsschritt sind noch deutlich mehr Fehler möglich.
Viele Wissenschaftler verwenden frei verfügbare Modellierungs-Software wie GenX, PyPSA oder TIMES. Diese Programme sind üblicherweise quelloffen mit maximal möglicher Transparenz. Fehler lassen sich trotzdem nicht auszuschließen.
Deutlich intransparenter sind selbst entwickelte Modellierungssysteme, deren Quellcode nicht öffentlich zugänglich ist. Fraunhofer ISE nutzt zum Beispiel das proprietäre REMod-Modell.
Auch die schon genannten dänischen Forscher um Lund und Thellufsen haben ein eigenes geschlossenes Modell namens EnergyPLAN entwickelt.13
Solche Modellierungs-Software ohne Quellcode ist für Außenstehende eine Black Box. Man kann nur noch die Outputs auf Plausibilität testen. Das ist eine sehr mühsame und stark limitierende Methode, um Fehler zu finden.
Nehmen wir als Beispiel EnergyPLAN von Lund/Thellufsen et al. und plotten die gesicherte Leistung. Die steigt mit zunehmendem Kernkraft-Anteil von 10,8 GW auf 11,8 GW und schließlich auf 18,2 GW. Die Lastkurven bleiben aber gleich, bis auf die für Elektrolyse. Es werden also nie mehr als 10,8 GW gesicherte Leistung gebraucht.
Die AKW-Szenarien halten teure, aber unnötige Reservekapazitäten vor. Die Szenarien sind demnach nicht kostenoptimal, anders als behauptet. Und keiner der 8 Autoren oder der 2+ Peer-Reviewer hat diesen Modellfehler bemerkt. Auch Fraunhofer ISE, die das gefällige Ergebnis in ihrer neuen Studie zitieren, haben nichts davon gemerkt.
Als Diplom-Informatiker kann ich ohne zu Zögern behaupten, dass jede Software fehlerhaft ist und damit auch jedes Modell. Das gilt selbst dann, wenn man es nach bestem Wissen und Gewissen aufbaut und Quellcode sowie Annahmen 100% transparent macht.
EGAP: Everything Goes As Planned?
Und dann haben wir noch gar nicht über die grundsätzlichen Probleme aller Modellierungen geredet. Sie liegen durch notwendige Vereinfachungen und Unwägbarkeiten selbst im Bestfall immer daneben und meistens deutlich daneben.
Energiesystem-Modellierungen basieren grundsätzlich auf dem EGAP-Prinzip, der Erwartung dass alles wie geplant abläuft – “Everything Goes As Planned”.
Hier eine Kurzübersicht, was in diesem Jahrzehnt alles nicht nach Plan ging:
- 2020 Corona-Lockdowns
- 2021 “MS Ever Given” im Suezkanal
- 2021-2023 Energiekrise
Was glaubst du wie viele Studien solche Ereignisse modelliert haben? Genau, keine einzige.
Flyvbjerg et al. haben 258 große Infrastruktur-Projekte untersucht und häufig Kostenüberschreitungen von 40% festgestellt, mit regelmäßigen Überschreitungen von 80%. 14
Zum Beispiel liegt der Ausbau der Stromnetze in Deutschland bereits 7 Jahre hinter dem Plan zurück. 15 Und wir bauen die Stromnetze erst seit 14 Jahren signifikant aus!
Keine Energiesystem-Modellierung führt eine Machbarkeitsstudie zu ihren Ausbauzielen durch. Es ist völlig unklar, ob Arbeitskräfte, Materialien und Produktionskapazitäten ausreichen und welche bekannte oder unbekannte Engpässe es gibt.
Ein Grund für die Verzögerung des deutschen Netzausbaus ist, dass die Transformatoren nicht ausreichen. Die Lieferzeiten haben sich von 6-8 Monaten auf 3-4 Jahre erhöht. Das steht natürlich in keiner Energiewende-Studie.
Weil eben nie alles nach Plan verläuft, sollten wir uns möglichst breit aufstellen, mit möglichst vielen voneinander unabhängigen Technologien.
Besonders skeptisch bin ich bei Technologien, die noch Jahre oder Jahrzehnte von der Marktreife entfernt sind, egal ob Small Modular Reactors oder die bunte Wasserstoff-Welt.
Fazit: Irreführende Studien erkennen
Dies soll kein Wall of Shame sein. Es gibt neben den genannten noch viele weitere mangelhafte Studien, egal ob gewollt oder ungewollt.
Dazu gibt es in Deutschland jede Menge Gefälligkeitsstudien, deren Ergebnis “AKW sind schlecht” schon vorher feststand.
Ich habe für meine Übersicht kostenoptimaler Energiesysteme mehr als 50 Studien untersucht und nur 6 waren nach meinen Kriterien aussagekräftig.
Hier sind irreführende Studien erwähnt, die wegen ihrer Aktualität oder ihrem Einfluss in Medien oder in Social Media zitiert werden.
Mir geht es darum, unrealistische Annahmen aufzuzeigen, damit du als Leser wenig aussagekräftige Ergebnisse besser erkennst.
Das dürfte in Zukunft wichtiger werden, vor allem für Befürworter einer technologieoffenen und bezahlbaren Energiewende.
Energiewendeforscher wie Fraunhofer ISE oder FZ Jülich ignorieren AKW nicht mehr, sondern rechnen sie jetzt aktiv schlecht.
Das ist, pragmatisch gesehen, ein Schritt nach vorne. Aber da fehlen noch einige Schritte bis zu einer seriösen Aufarbeitung.
Ich träume weiter davon, dass das Lügen mit Zahlen in der Energiewende-Debatte aus der Mode kommt.
Quellen
- Diversity of options to eliminate fossil fuels and reach carbon neutrality across the entire European energy system Pickering et al (2022)
- Levelized Full System Costs of Electricity Idel (2022)
- Cost and system effects of nuclear power in carbon-neutral energy systems Thellufsen et al (2024)
- Increasing spatial resolution of a sector-coupled long-term energy system model: The case of the German states Brandes et al (2024)
- Investitionen von mehr als 600 Milliarden Euro in Netze nötig Handelsblatt (2024)
- Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem Thelen et al (2024)
- Europäische Energiewende: Deutschland im Herzen Europas Stolten et al (unveröffentlicht)
- The role of new nuclear power in the UK’s net-zero emissions energy system Price et al (2023)
- Stromgestehungskosten erneuerbare Energien Kost et al (2024)
- Projected electricity costs in international nuclear power markets Rothwell (2022)
- Flexible nuclear power and fluctuating renewables? Göke et al (unveröffentlicht)
- Comments on “Uncertainties in estimating production costs of future nuclear technologies: A model-based analysis of small modular reactors” [Energy 281 (2023) 128204] Hjelmeland & Nøland (2024)
- EnergyPLAN – Advanced analysis of smart energy systems Lund et al (2021)
- Megaprojects and Risk: An Anatomy of Ambition Flyvbjerg et al (2003)
- Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit der Stromversorgung Bundesrechnungshof (2024)