Harald Lesch ist ein Verteidiger der Wissenschaft. Warum aber verbreitet er einfach widerlegbare Mythen über die Kernkraft?
Inhalt
Alpha Centauri mit dem Astrophysiker Harald Lesch war großartig. Die Nuller-Jahre-Sendung war ein früher Vorläufer der heutigen Youtube-Wissenschaftskanäle.
Wenn dich unser Universum interessiert, kann ich die Astronomie-Sendung auch heute noch empfehlen.
Harald Lesch widmet sich mittlerweile als Wissenschaftsjournalist politischen Themen auf dem Youtube-Kanal Terra X Lesch & Co.
Dort trägt er auch 26 Mythen über Kernkraftwerke zusammen. Die zivile Kernkraft ist in Deutschland ein äußerst politisches Thema.
Harald Lesch entlarvt diese Mythen aber nicht. Ganz im Gegenteil, er verteidigt Falschaussagen, als wäre er selbst Kernkraftgegner.
Das ist ungefähr so schockierend, als ob Harald Lesch unhinterfragt Argumente von Klimawandelleugnern vorträgt.
Das schreit nach einem Fact-Check…
Update: Lesch widerspricht Endlagersuche-Mythos im 5. Video
In seinem neuesten Video zur Kernkraft vom Oktober 2024 besinnt sich Harald Lesch auf seine Aufgabe Mythen zu widerlegen, statt sie selbst zu verbreiten.
Der Titel “… und was vom Atomausstieg bleibt” zeigt schon, dass die Abschaltung der AKW keine Lösung der Müllentsorgung war. Wir haben den Atommüll mit Ausstieg genauso wie ohne. Radioaktiven Müll aus Forschung und Medizin haben wir ganz ohne AKW.
Das Video widmet sich zuerst kuriosen Entsorgungs-Ideen wie der Weltraumentsorgung. Es zeigt, warum tiefengeologische Endlager als beste Lösung gelten und warum alle Länder diesen Ansatz gewählt haben (außer Russland mit seinen Tiefenbohrungen).
Lesch erklärt, wie Finnland und Frankreich hinreichend sichere Endlagerstandorte gefunden haben. Deutschland hingegen sucht nach dem sichersten Endlager. Wir bestimmen einfach einen Standort ohne Rücksicht auf die Bevölkerung.
Mit diesem aus dem Ruder gelaufenem Perfektionismus soll der deutsche Endlagerstandort erst im Jahr 2074 (!) gefunden sein. Dann muss das Endlager noch gebaut werden und der Müll rund 20 Jahre lang eingelagert werden.
Lesch appelliert im Fazit an die Politik, diesen Prozess zu beschleunigen. Wie unsere Nachbarn zeigen, ist die Endlagersuche ein politisches Problem und kein technisches. Er widerlegt hier einen Mythos der Kernkraftgegner.
Hat Harald Lesch sich in seinem neuesten Video also rehabilitiert? Eine ironische Stelle in dem Video liefert eine gute Antwort:
22:47: “Die meisten Finnen stehen zur Atomkraft und gehen pragmatisch an das Thema heran. […] Zudem gibt es kaum kritische Medienberichte über Kernenergie”.
Ja lieber Harald, wer hat denn mit “kritischen Medienberichten” dazu beigetragen, dass die Deutschen die Atomkraft überhaupt nicht mehr pragmatisch sehen?
Fact Check: 4 Anti-Kernkraft-Videos von Harald Lesch
Die 26 Mythen sind je Video in zeitlicher Reihenfolge sortiert. Du kannst so die Videos nebenbei schauen und stoppen, um den Fact Check zu lesen. Neben jedem Mythos ist außerdem ein Link auf die genaue Stelle im Video.
- 1. Video mit Mythen 1-8 (2024): Alles Kernkraft, alles bingo? | Transmutation erklärt
- 2. Video mit Mythen 9-14 (2021): Übereilter Atomausstieg? Fukushimas Erbe
- 3. Video mit Mythen 15-20 (2019): Atomkraft jetzt! Rettung für das Klima?
- 4. Video mit Mythen 20-26 (2021): Mini-Kernkraftwerke: Der Weg aus der Klimakrise?
Wie du siehst, macht Harald Lesch immer wieder Anti-Kernkraft-Videos. Obwohl er Physikprofessor ist, geht er dabei vielen einfachen Fehlschlüssen der Kernkraftgegner auf den Leim.
Im Video von 2024 erhöht er die Schlagzahl sogar noch von 6 auf 8 Mythen pro Video. Wie er selbst im Fazit des neuesten Video zugibt, verwundert ihn die Rennaissance der Kernkraft.
Wenn er diese 26 (!) Kernkraft-Mythen tatsächlich glaubt, dann überrascht ihn natürlich das AKW-Neubauprogramm unserer Nachbarländer und vieler Industriestaaten weltweit.
Vielleicht ist diese kognitive Dissonanz ja ein erster Schritt, um seine ungeprüften Annahmen zu hinterfragen. Wissenschaftler machen das normalerweise mehrmals am Tag.
Wenn du lieber Fact Checks zu den Videos als Video anschaust, dann bist du bei Simeon Preuß richtig: 1 2 3
Aber genug geschwafelt, auf zum Fact Check von Leschs 26 Behauptungen.
1. Video
1. Mythos: Komplette Stromversorgung nur durch Kernkraft
00:34 Harald Lesch: “wir wollen einfach nur im Stromsektor die komplette Stromversorgung Deutschlands durch Kernkraftwerke bereitstellen.”
Das Video beginnt mit einem Strohmann. Fast niemand fordert die komplette Stromversorgung nur mit Kernkraftwerken zu decken. Kernkraft-Befürwortern geht es darum, AKW nicht grundlos auszuschließen. Es geht um einen gesunden Strommix aus so vielen unterschiedlichen Erzeugern wie möglich.
Diversifikation senkt Abhängigkeiten. Wenn wir auf mehreren Füßen stehen, sind wir nicht so aufgeschmissen, wenn es zu Engpässen bei einer Energiequelle kommt. Diese Lektion sollte Deutschland eigentlich aus dem massiven Fokus auf russisches Pipeline-Gas gelernt haben.
Diversifikation senkt außerdem die Kosten. Jede Energiequelle hat eigene Vorteile und Nachteile. Modellierungen zeigen, dass bei ergebnisoffener Optimierung ein gesunder Mix aus allen klimafreundlichen Erzeugern herauskommt.1
Dazu kommt, dass Deutschland sich mit Wind und Solar gar nicht selbst versorgen kann. Ein bis zwei Drittel unseres Energiebedarfs müssen wir bei Beschränkung auf 100% Erneuerbare in Form von Wasserstoff und Synthfuels importieren – bis in alle Ewigkeit.
Die 40-55 Reaktoren, die Lesch im Video berechnet, finden übrigens alle an bisherigen AKW-Standorten Platz. Wir hatten bereits 37 Kernkraftwerke in Deutschland. Selbst die von ihm explizit genannten 8 AKW in Bayern gab es dort bereits.
2. Mythos: Wir haben eine Million Jahre mit dem Atommüll zu tun
06:13 Harald Lesch: “aber eine Million Jahre, das sind doch unvorstellbare Zeitläufe. Wie soll eine Zivilisation mit solchen Zeiträumen umgehen?”
Der Vorschlag mit einer Million Jahren Verwahrungsdauer stammt aus einem Gesetzestext, dem Standortauswahlgesetz. Es gibt keine physikalischen Gründe, warum der Zeitraum so extrem lange sein muss. Harald Lesch sollte sich als Physiker auf physikalische Gesetze beziehen.
Nach bereits 300 Jahren sind die hochradioaktiven Gammastrahler nämlich so weit zerfallen, dass sie keine Gefahr mehr darstellen.2 Um durch die verbleibenden Alpha- und Betastrahler gesundheitlichen Schaden zu nehmen, müsste man den Müll dann schon essen.
Aber nehmen wir eben an, dass wir den Atommüll eine Million Jahre sicher verwahren wollen, weil das so im Gesetz steht. Das heißt trotzdem nicht, dass wir uns in 100 Jahren noch darum kümmern müssen. Ein weiterer Gesetzestext, die Endlagersicherheitsanforderungsverordnung, sieht einen passiven und wartungsfreien Einschluss der radioaktiven Abfälle vor.
Es kommt auch keine “Klappe” über das Endlager, wie Lesch im Video behauptet. Das Endlager gibt es nach passivem und wartungsfreiem Verschluss nicht mehr. Das Inventar geht in die Geologie über. Und in geologischen Zeitskalen sind eine Million Jahre ein Augenblick.
3. Mythos: Auch nach Transmutation brauchen wir ein Endlager
09:01 Harald Lesch: “ja man braucht immer noch ein Endlager. Es bleibt einfach immer noch was übrig, was gelagert werden muss”
Ja, es bleibt nach der Transmutation etwas übrig, aber eben kein hochradioaktiver Atommüll. Nach 300 Jahren sind von dem transmutierten Atommüll nicht nur die Gammastrahler zerfallen, sondern alle hochradioaktiven Elemente. Die Radioaktivität ist dann unter der von Natur-Uran.
Wir könnten mit Hilfe der Transmutation also komplett auf ein tiefengeologisches Endlager in 800 Meter Tiefe verzichten. Der hochradioaktive Müll müsste für 300 Jahre in den aktuellen Zwischenlagern bleiben und könnte danach in einer oberflächennahen Deponie entsorgt werden.
Es gibt aber durchaus Gründe, die Transmutation abzulehnen. Das Transmutieren ist aufwändig, teuer und birgt selbst Gesundheitsrisiken. Ein tiefengeologisches Endlager hingegen ist relativ günstig und nach der Studienlage extrem sicher.3
Außerdem ist Deutschland das einzige Land der Welt, welches selbst für niedrig radioaktiven Müll ein tiefengeologisches Endlager baut. So weit geht bei uns die Strahlenphobie. Transmutation würde in Deutschland also erst dann helfen, wenn wir mit diesem Alleingang aufhören.
2027 soll Schacht Konrad in Betrieb gehen, das nach Morsleben zweite deutsche Atommüll-Endlager für Bauschutt, Kittel, Werkzeug usw. aus dem Rückbau der AKW. In allen anderen Ländern entsorgt man diesen weitestgehend ungefährlichen Müll oberflächennah.
4. Mythos: Kernkraft hat höhere Emissionen als Wind und Solar
09:57 Harald Lesch: “die Kernkraft ist viel schlechter in der CO2-Emission als irgendwelche Erneuerbaren”
Diese Behauptung lässt sich leicht widerlegen, denn die erneuerbare Biomasse verursacht indirekte Emissionen von 230 gCO2/kWh.4 Das ist doppelt so viel, wie die von Harald Lesch zitierte Zahl zur Kernkraft.
Die Emissionszahl für Kernkraft, die Lesch nennt, ist mit 117 gCO2/kWh außerdem ein absoluter Outlier. Ein aktueller Wert für die CO2-Emissionen von Kernkraft ist 6 gCO2/kWh, also 19 Mal so wenig!5
Der Weltklimarat kam 2014 dank einer Meta-Studie über mehr als 100 Einzelstudien auf den Median 12 gCO2/kWh für Kernkraftwerke. Das ist niedriger als die CO2-Emissionen für Wind mit 17 gCO2/kWh und für Solarparks mit 48 gCO2/kWh für deutsche Standortfaktoren.
Die Quelle von Harald Lesch ist nicht vom Weltklimarat, sondern von der Anti-Atomkraft-Lobbygruppe WISE. Das heißt nicht, dass ihre Zahl unbedingt falsch sein muss. Aber warum cherrpyickt Lesch ausgerechnet einen Outlier aus einer befangenen Quelle?
Man könnte analog zu Leschs Cherrypicking einen Outlier für Solar von 240 gCO2/kWh nehmen und einen für Wasserkraft mit 2200 gCO2/kWh.6 Diese Art von “Datenselektion” hat mit Wissenschaft nix zu tun.
5. Mythos: Kernkraft ist wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig
10:15 Harald Lesch: “ist die Kernkraft wirklich konkurrenzfähig zu den Erneuerbaren Energien? Wirtschaftlich auf keinen Fall!”
Wieso mussten wir in Deutschland Kernkraftwerke per Gesetz verbieten, wenn sie doch angeblich sowieso nicht konkurrenzfähig sind? Es überrascht dann auch nicht, dass sich für Leschs AKW-Gestehungskosten von 14-19 Ct/kWh keine Quelle finden lässt. Diese Zahl geistert seit Jahren unbelegt durch soziale Netzwerke.
14-19 Ct/kWh können gar nicht stimmen, wie das Beispiel des Kernkraftwerks Hinkley Point C (HPC) in Großbritannien zeigt. Das AKW erhält eine feste Einspeisevergütung von 14 Ct/kWh 7 Die Kosten lägen also ÜBER dem Ertrag, den das AKW maximal erwirtschaftet. Das Kraftwerk würde also garantiert Verluste machen, wenn die Zahl stimmt. Und die 14-19 Ct sind noch gar nicht inflationsbereinigt.
Auch die Proberechnung geht nicht auf. Der Neubau müsste 170 Mrd. Euro kosten um auf 14 Ct/kWh zu kommen.8 Tatsächlich soll HPC 54 Mrd. Euro kosten und gilt damit als eins der teuersten Kernkraftwerke der Welt. Das ist ja auch viel zu teuer. Aber ein Prototyp eines neuen Reaktors ist eben keine Referenz für einen Serienbau.
Leschs angebliche Kosten von AKW sind weder plausibel noch gibt es dafür eine Quelle.
6. Mythos: Die Folgekosten von Kernkraft sind unermesslich hoch
10:26 Harald Lesch: “die Folgekosten für den Einsatz von Kernenergie kann man gar nicht abschätzen. Wir wissen heute nur, sie sind sehr sehr hoch.”
Dass man die Folgekosten nicht abschätzen kann, ist falsch. Die UN hat das im Jahr 2021 getan und schätzte die externen Kosten von Kernkraft am zweitniedrigsten ein nach der noch umweltfreundlicheren Wasserkraft.
Bekannter noch ist die Abschätzung des wissenschaftlichen Beirats der EU. Die Kernkraft wurde 2022 als nachhaltig in die EU-Taxonomie aufgenommen, weil sie weder Umwelt noch Menschen mehr schadet als andere nachhaltige Energiequellen.9
Lesch verwendet lieber ein viel älteres und äußerst fragwürdiges Dokument. Das Umweltbundesamt hat im Jahr 2012 die Umweltfolgen der Braunkohle in Höhe von 76 Ct/kWh genommen und einfach der Kernkraft aufgebrummt.10
Begründet wird das damit, dass die Kernenergie per Definition die schlechtesten Folgekosten haben soll und die Braunkohle die zweitschlechtesten:
“Das Umweltbundesamt empfiehlt, bei der Ermittlung der gesamten Umweltkosten der Stromerzeugung die Umweltkosten der Kernkraft mit dem Kostensatz für Braunkohle zu bewerten. Dies stellt angesichts der Unsicherheit hinsichtlich der Bestimmung der Umweltkosten der Kernenergie die aus Sicht des Umweltbundesamtes beste Lösung dar. Dahinter steht die Auffassung, dass die Kosten der Kernkraft mindestens so hoch bewertet werden müssen wie der nächstschlechtere Energieträger, der eingesetzt wird.”
Das ist kein Witz. Hier wurde tatsächlich das Ergebnis “Kernkraft = am umweltschädlichsten” vorgegeben und die Zahlen dazu wurden frei erfunden. Das hat mit Wissenschaft überhaupt nichts mehr zu tun.
7. Mythos: AKW und Erneuerbare passen nicht zusammen
11:04 Harald Lesch: “wäre da nicht die Kernkraft vielleicht ein idealer Lückenfüller? Aussage ist nein”
Lesch hat völlig recht, dass es keinen Sinn macht, Kernkraftwerke erst dann anzuschalten, wenn die Sonne untergeht. Technisch können AKW zwar sehr schnell Last- und Leistungsfolge fahren, aber das würde zu teuer werden. Nein, gute Lückenfüller sind Kernkraftwerke nicht.
Aber in jedem Industrieland gibt es eine Stromnachfrage, die im Tagesverlauf nicht unterschritten wird. Diese Tag und Nacht nachgefragte Last nennt man Grundlast. Wind und Solar sind wegen ihrer Schwankungen sehr schlecht für die Deckung der Grundlast geeignet. AKW hingegen sind wegen ihrer langweiligen Leistungskurven perfekt dafür.
Für die Mittellast wiederum sind AKW weniger gut geeignet und für die Spitzenlast gar nicht. In der Spitzenlast können Wind, Solar und Kurzzeitspeicher ihre Stärken ausspielen. Ein kostenoptimales Energiesystem setzt sowohl auf volatile als auch auf gesicherte Leistung.11
Wenn die Kernkraft die Grundlast übernimmt, sind die Anforderungen an teure Saisonspeicher nämlich sehr viel geringer und fallen ab einem gewissen Kernkraftanteil ganz weg. Wir brauchen alle klimafreundlichen Energiequellen!
Noch dazu haben wir, wie im 1. Mythos schon erwähnt, gar nicht genug Fläche im sonnenarmen und windarmen Deutschland. Wind und Solar können unseren Energiebedarf nur zu einem bis zwei Drittel decken. Ohne AKW müssen wir den Rest der Energie als teuren Wasserstoff importieren. Das gibt Lesch sogar in einem Interview selbst zu.
8. Mythos: Kernkraftwerke sind unversicherbar
11:42 Harald Lesch: “weil Kernkraftwerke nicht versichert werden können”
Alle kommerziellen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland waren während ihrer gesamten Laufzeit versichert. Auch wenn wir wieder in die Kernenergie einsteigen sollten, werden alle Kernkraftwerke in jeder Stunde versichert sein.
Woher ich das weiß? Weil es gesetzlich so im §13 Atomgesetz und genauer in der atomrechtlichen Deckungsvorsorge-Verordnung vorgeschrieben ist. Das ist wie bei der Haftpflicht-Versicherung beim Auto. Ohne Haftpflicht-Versicherung gibt es erst gar keine Zulassung.
Im Jahr 2002 wurde unter Trittin die im Atomgesetz festgelegte Deckungssumme auf 2,5 Mrd. Euro erhöht. Das ist eine sehr hohe Summe, wenn man bedenkt, dass bei der Kernschmelze von Three Mile Island nur rund 50 Millionen Euro Schadensersatz gezahlt wurden, für Evakuierungen und medizinische Untersuchungen.12
Der Unfall von Three Mile Island ist schon so schlimm wie die maximal 200 Meter Kontamination um das Betriebsgelände, die man sich in deutschen AKW vorstellen kann. Aber selbst wenn die Deckungssumme der deutschen Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft nicht reichen sollte, haftet danach nicht die Gesellschaft, sondern der Betreiber mit seinem vollen Vermögen.
Es gab immer wieder Forderungen, dass in deutschen Kernkraftwerken auch ein Unfall wie in Tschernobyl versichert sein soll. Ein Unfall wie in Tschernobyl ist aber nur in graphitmoderierten Reaktoren möglich und in allen Leichtwasserreaktoren physikalisch unmöglich. Natürlich muss man keine Unfälle versichern, die in deutschen Reaktoren gar nicht passieren können.
Wie Harald Lesch darauf kommt, dass deutsche AKW nicht versichert waren und gar nicht versicherbar sein sollen, ist mir ein Rätsel. Vielleicht ist er auf die Berechnungen der Versicherungsforen Leipzig hereingefallen, die davon ausgehen, dass es alle 2 Jahre zu einem Unfall wie in Tschernobyl kommt.
2. Video
9. Mythos: Strahlenfolgen für die Bevölkerung in Fukushima
03:57 Harald Lesch: “Anders sieht es aus bei dem kindlichen Schilddrüsenkrebs. Da war es so, dass der normale Erwartungswert wären 10 Fälle in der Region Fukushima. Jetzt hat man 167 Fälle entdeckt, die operiert werden mussten.”
Diese Fälle von Schilddrüsenkrebs wurden gefunden, als man kurz nach dem Reaktorunfall die Ausgangslage für langjährige Beobachtungen klären wollte. Es wurde vorher noch nie ein großer Teil der Bevölkerung ohne Symptome gescreent. Es gab also keinen Erwartungswert, man bestimmte damit den Erwartungswert.
Strahlenfolgen können das so früh gar nicht gewesen sein. Es dauerte selbst bei den um Größenordnungen höheren Mengen radioaktives Jod in Tschernobyl 5 Jahre, bis zu den ersten Fällen von Schilddrüsenkrebs. 13
In Fukushima war die Strahlenbelastung für die Bevölkerung viel niedriger als in Tschernobyl. Das UN-Expertengremium UNSCEAR erwartet überhaupt keine Strahlenschäden durch Fukushima, insbesondere keinen Schilddrüsenkrebs. 14
10. Mythos: Allgemeinheit zahlt den Rückbau der AKW
06:05 Harald Lesch: “Das ist angesichts der Kosten, die wir beim Rückbau zu bezahlen haben, Rückbau der Atomkraftwerke von 20 bis 25 Milliarden, ist das eigentlich gar nichts.”
Ja, der Rückbau aller AKW in Deutschland kostet rund 15 bis 25 Milliarden Euro. 15
Aber nicht wir zahlen diese Kosten, sondern die Betreiber. Die haben über die Betriebsjahre Rückstellungen gebildet, um den Rückbau zu finanzieren.
Umgerechnet auf den in Deutschland insgesamt erzeugten Atomstrom, liegen die Rückbau-Kosten bei rund 0,1 Cents pro kWh. Das ist günstiger als der Rückbau von Windrädern.
Die Rückbaukosten pro kWh wären noch günstiger, wenn man die Kernkraftwerke nicht vorzeitig aus politischen Gründen abschalten würde.
11. Mythos: Keine Stromimporte durch Atomausstieg
07:01 Harald Lesch: “Musste jetzt Deutschland nach dem Ausstieg aus der Kernkraft auf einmal Atomstrom von woanders einkaufen? Zum Beispiel aus Frankreich. Die Antwort ist: Nein. Seit 2002 verkaufen wir nur noch Strom. Wir importieren gar nichts mehr.”
Keine Stromimporte seit 2002?? Natürlich importieren wir Strom, auch aus französischen, schwedischen, niederländischen, belgischen, tschechischen und schweizerischen Kernkraftwerken. In naher Zukunft werden wir sogar Atomstrom aus Polen importieren.
2020 haben wir fast 50 TWh importiert und die Jahre vorher um die 40 TWh. 16 Das waren 2020 knapp 10% des deutschen Stromverbrauchs.
Harald Lesch rechnet das Jahresmittel von Exporten und Importen auf, als ob die Exporte bei Sonnenschein im Juli die Importe bei Dunkelflaute im Januar einfach ungeschehen machen.
Das ist so, als ob du deine Heizung verkaufst, weil die Jahresmitteltemperatur in Deutschland bald bei 15 Grad Celsius liegt. Das heißt doch nicht, dass es niemals kalt wird…
12. Mythos: Gestehungskosten ohne Systemkosten
08:04 Harald Lesch: “schauen wir uns mal eine Vollkostenrechnung an, nämlich den Neubau einer Anlage, den Betrieb einer Anlage, die Rohstoffkosten und den Abbau einer Anlage.”
Harald Lesch schlägt eine “Vollkostenrechnung” vor, aber berücksichtigt nur die Gestehungskosten.
Insbesondere unterschlägt er die Integrationskosten in das Stromnetz: 17
- Netzkosten
- Kosten für Backup
- Kosten für Regelenergie
- Kosten für Überproduktion
- Kosten für Volllaststundenreduktion
Diese Systemkosten sind bei Wind und Solar deutlich teurer als bei konventionellen Kraftwerken. Sie wachsen außerdem bei wetterabhängigen Erneuerbaren überproportional mit weiterem Zubau.
In Deutschland sind die Systemkosten von Wind und Solar bereits höher als ihre Gestehungskosten. Und sie steigen immer mehr, siehe Vollkosten für Deutschland inklusive Systemkosten.
13. Mythos: Kernkraft wird immer teurer
09:09 Harald Lesch: “Also trotz jahrzehntelanger Entwicklung und Verbesserung der Kraftwerkstechnologie ist die Kernkraft heute ökonomisch tot, weil sie zu teuer ist.”
Wie man im Diagramm mit Daten von der IEA für Mitteleuropa oben sieht, wurde Kernkraft zwischen 2010 und 2020 in Mitteleuropa nicht teurer, sondern um 20% günstiger. Wenn man noch weiter zurückgeht bis 1970, sind die Kosten von Serienreaktoren ungefähr gleichgeblieben. 18
Harald Lesch beruft sich im Video aber nicht auf Studien mit europäischen Werten, sondern ausgerechnet auf Lazard Levelized Costs of Interest. Lazard ist keine gute Referenz, aus mehreren Gründen:
- betrachtet nur die USA, wo Kernkraftwerke deutlich teurer sind als im Rest der Welt 19
- senkt die Laufzeiten von Kernkraftwerken auf nur 40 Jahre statt 60 Jahre, was die Kosten auf 150% erhöht
- verwendet einen Abzinsfaktor von 10% statt 3-5%, was die Kosten von Kernkraft im Vergleich zu Solar mehr als verdreifacht 20
Allein diese drei Annahmen erhöhen den Preis von Kernkraftwerken um eine Größenordnung. Lazard weist also normalisiert und auf deutsche Standortfaktoren korrigiert noch deutlich günstigere Gestehungskosten zu Kernkraft aus als andere Studien.
In den USA haben Solar und Wind außerdem deutlich bessere Standortfaktoren. Lazard geht von 30% Kapazitätsfaktor bei Solar und 55% bei Wind aus, verglichen mit 10% und 20% in Deutschland. Photovoltaik und Windkraft in Deutschland sind also fast drei Mal so teurer, wie von Lazard dargestellt.
14. Mythos: Es gibt mehr Störfälle je älter ein AKW ist
09:56 Harald Lesch: “Je älter die Anlage ist, umso mehr meldepflichtige Störfälle haben wir da. Das heißt also, je älter der Kernkraftwerke werden, umso risikobehafteter werden sie.”
Es gab in kommerziellen AKW in Deutschland insgesamt nur 3 meldepflichtige Störfälle. Einer war im Kernkraftwerk Unterweser (1998) und zwei im Kernkraftwerk Philippsburg 2 (beide 2001). Wenn man durch diese 3 Datenpunkte eine Trendlinie legt, dann wird es wirklich immer gefährlicher! (Achtung: Ironie)
Was Harald Lesch im Video zeigt, sind keine meldepflichtigen Störfälle, sondern alle meldepflichtigen Ereignisse. Die Kernkraftbranche ist die am stärksten regulierte der Welt, noch vor der Luftfahrt. Es müssen auch Ereignisse gemeldet werden, die keine Relevanz für die Sicherheit haben.
Fast alle diese meldepflichtigen Ereignisse sind auf der INES-Skala eine 0. INES 0 ist definiert als “Keine oder sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung – unterhalb der Skala”.
3. Video
15. Mythos: Uranvorkommen reichen nur noch 130 Jahre
01:58 Harald Lesch: “Zum Beispiel, die OECD, die schätzt, dass die Uranvorkommen auf der Welt ungefähr noch 130 Jahre reichen werden.”
130 Jahre sind sogar eine Größenordnung zu viel. Nur 12,7 Jahre könnten wir den gesamten Weltenergieverbrauch mit den bekannten förderbaren Uranvorkommen decken.
Beim aktuellen Uranpreis von 80 USD pro Kilogramm lohnt es sich aber bereits Uran aus dem Meerwasser zu extrahieren.21 Wenn wir nur 10% des Meerwasser-Urans extrahieren, können wir mit Uran die Welt 433 Jahre komplett versorgen.
An diesem Punkt können wir aufhören uns um Uranvorkommen Sorgen zu machen. 433 Jahre Reichweite mit aktueller Technologie sind mehr als genug Zeit um Alternativen zu finden. Zum Vergleich: wir nutzen Kohle erst seit 140 Jahren.
Uran reicht aber viele Millionen Jahre. Unsere Leichtwasserreaktoren nutzen weniger als 1 Prozent des Urans als Brennstoff. Durch Schließen des Brennstoffkreislaufes mit schnellen Reaktoren können wir rund 150 Mal mehr Energie aus den gleichen Uranvorkommen erzeugen.
Mit einem geschlossenen Brennstoffkreislauf reicht sogar der jährliche Zufluss von 32.000 Tonnen Uran durch Erosion in das Meerwasser, um jedes Jahr das 4,5-fache des Weltenergieverbrauchs zu erzeugen. 22 Moderne Kernkraft ist nicht ohne Grund als erneuerbare Energie definiert.
16. Mythos: Kernkraft macht nur 4% der Primärenergie aus
02:43 Harald Lesch: “Es sind- 80 % kommen von fossilen Rohstoffen oder von fossilen Ressourcen und nur 4 % von der Kernkraft.”
Es stimmt, die Kernkraft stellt nur 4% der Primärenergie. Wasserkraft stellt 6%, Wind stellt 2% und Solar nur 1,3%. Sollen wir auf Wasserkraft, Kernkraft, Solar und Wind verzichten? Too little, too late?
Natürlich hat Harald Lesch recht, dass das viel zu wenig klimafreundliche Energie ist. Aber nicht der heutige Anteil ist entscheidend, sondern die Zubaugeschwindigkeit. Und die ist bei Kernkraft viel höher als bei Solar und Wind. 23
Wie Harald Lesch sagt, stellen Kohle, Öl und Erdgas rund 80% des Energiebedarfs. Wenn wir die Fossilen und Biomasse ersetzen wollen, brauchen wir alle klimafreundlichen Energien, vor allem die schnell zubaubare Kernkraft.
17. Mythos: Kernkraftwerke führen zu Atombomben
08:13 Harald Lesch: “Ja dann entsteht dabei ja jede Menge Plutonium. Plutonium kann ja für nukleare Waffensysteme verwendet werden.”
Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurden die bei uns typischen Leichtwasserreaktoren eingesetzt, um waffenfähiges Plutonium zu erbrüten. Mit existierender Technologie ist das gar nicht möglich. Das weiß ganz sicher auch Harald Lesch.
Waffenfähiges Plutonium muss, um eine kritische Masse zu erreichen, isotopenreines Pu-239 sein. In Leichtwasserreaktoren entsteht zwar auch Pu-239. Das ist aber viel zu stark mit Pu-240 verunreinigt.
Chemisch lassen sich Pu-239 und Pu-240 nicht trennen, weil es zwei Isotopen desselben Elements sind. Mit verbrauchten Brennstäben lässt sich also beim besten Willen keine Bombe bauen.
Um waffenfähiges Uran anzureichern, brauchst du hingegen nicht mehr als Uranerz und eine große Zahl von Zentrifugen. Israel und Nordkorea haben Atombomben und keinen einzigen kommerziellen Kernreaktor im Land. Auch Iran geht bekannterweise diesen Weg.
Es gibt auch in der wissenschaftlichen Literatur keinen Hinweis darauf, dass Kernenergie zu nuklearer Proliferation führt. Sollte man als Wissenschaftler schon in Erfahrung bringen können.24
18. Mythos: Es gibt keine tiefengeologischen Endlager
08:30 Harald Lesch: “Es gibt kein einziges Endlager auf der Welt.”
Allein in Deutschland gibt es mehr als 40 tiefengeologische Endlager, davon 2 für Atommüll: Morsleben und Schacht Konrad.
Wir haben in Deutschland sogar das größte Endlager der Welt. In Herfa-Neurode sind auf der Fläche von München Millionen Tonnen Müll bis in alle Ewigkeit eingelagert.
19. Mythos: hohe Subventionen für Kernkraftwerke
11:34 Harald Lesch: “Wenn man sich anschaut, mit welchen Subventionen zum Beispiel selbst in Großbritannien heute Kernkraftwerks-Neubauten finanziert werden müssen”
Hinkley Point Block C ist der Kernkraftwerksneubau, den Harald Lesch meint. Es ist ein Prototyp des neuen EPR-Designs. Der Contract for Difference (CfD) liegt tatsächlich bei £90 pro MWh. Der CfD für Offshore Wind im gleichen Zeitraum war mit £140-150 pro MWh allerdings mehr als 150% so teuer. 25 Und das ist ein CfD, also ein Differenzvertrag. Das heißt, die tatsächliche Höhe der Subventionszahlungen für die Windprojekte dürfte pro kWh bei einem Vielfachen von denen für Hinkley Point C liegen.
Wenn Windkraft in Großbritannien extrem hoch subventioniert wird, dann muss man eben auch andere klimafreundliche Erzeuger wie die Kernkraft oder Photovoltaik subventionieren, sonst investiert niemand. Subventionen haben aber grundsätzlich nichts mit den Kosten zu tun. Unsubventionierte Kernkraftwerke sind sehr viel günstiger als unsubventionierte Solaranlagen und Windräder, siehe Mythos Nr. 10 & 11.
Übrigens, in Deutschland mussten kommerzielle Kernkraftwerke noch nie subventioniert werden. 26
20. Mythos: 100% Erneuerbare sind kein Problem
12:11 Harald Lesch: “Dazu brauchen wir eine etwas andere Infrastruktur. Man braucht vor allen Dingen mehr Energiespeicher. Man braucht vielleicht auch vernetztere Netze usw. Aber das ist alles viel ungefährlicher und viel unproblematischer”
Wir brauchen nicht “mehr Energiespeicher”. Wir haben noch gar keine Speicher mit großen Kapazitäten. Ja wir haben noch nicht einmal erprobte Speichertechnologien, um auch nur theoretisch den Energiebedarf eines Landes mehrere Tage zu speichern.
Die fehlenden Speicher sind nicht “unproblematischer”, sondern das KO-Kriterium für ein Energiesystem mit 100% Erneuerbaren. Die aktuelle Speichertechnologie gibt das nicht einmal annähernd her.
Technologie schreitet voran, aber wir können nicht den Erfolg der Energiewende darauf verwetten, dass es in den nächsten Jahren einen gewaltigen Durchbruch bei Energiespeichern gibt.
4. Video
21. Mythos: Kleine modulare Reaktoren sind kleine Großkraftwerke
04:05 Harald Lesch: “Um die Leistung eines großen Kernkraftwerks zu präsentieren braucht man fünf von diesen Mini-Kraftwerken, manchmal sogar noch mehr”
Kleine modulare Reaktoren sollen kein Ersatz für Großkraftwerke in Industrieländern wie Deutschland sein. Dafür sind bestehende Kernkraftwerke der Gigawattklasse deutlich besser geeignet.
Geplante Anwendungsbereiche für SMRs sind zum Beispiel:
- Länder mit Grundlast im einstelligen GW-Bereich, also fast alle Länder.
- Bereitstellung von Fernwärme/Prozesswärme – 100 MW elektrisch sind 300 MW thermisch
- Hochtemperaturreaktoren zur effizienten Herstellung von klimafreundlichem Wasserstoff
- Ersatz von Kohlekraftwerken unter Beibehaltung der Turbinen und Infrastruktur
Anders als im Strommarkt gibt es hier auch in 10 oder 20 Jahren noch ordentlich Potential – auch in Deutschland. Allein der Wärmesektor ist mehr als doppelt so groß wie der Stromsektor und deutlich schwieriger zu dekarbonisieren.
Klimafreundlich erzeugter Wasserstoff wird in wenigen Jahren heiß begehrte Mangelware sein. Wir wollen schließlich auch den Transportsektor vollständig dekarbonisieren.
Harald Lesch geht leider gar nicht auf die vielen verschiedenen Nischen ein, die die insgesamt 70 SMR-Designs besetzen wollen. Wir müssen ja nicht nur den Stromsektor in Industrieländern dekarbonisieren.
22. Mythos: Kernkraftwerke sind nicht sicher genug
05:43 Harald Lesch: “Welches Risiko gehen wir ein, wenn wir Mini-Kernkraftwerke verwenden in Zukunft und wie steht dieses Risiko im Vergleich zu dem Risiko des Klimawandels”
Das Risiko des Klimawandels spielt hier keine Rolle. Wir müssen die Sicherheit von Kernkraftwerken mit denen von anderen Erzeugern vergleichen, die ein Kernkraftwerk ersetzen könnten.
Dabei kommt heraus, dass die Kernkraft die sicherste Energiequelle ist, trotz Unfällen, Uranabbau, Urananreicherung, Wiederaufbearbeitung und Entsorgung von Atommüll. Dabei ist noch nicht eingerechnet, dass Wind und Solar zusätzlich ein Erdgas-Backup benötigen.
Dabei ist auch nicht berücksichtigt, dass die in dem Video besprochenen Mini-Kernkraftwerke mit passiver Kühlung noch einmal deutlich sicherer sind als unsere Gigawatt-Reaktoren.
Überrascht? Das war ich auch, als ich diese Statistik 2009 zum ersten Mal gesehen habe. Ich war damals eigentlich gegen Kernkraft, aber musste meine Meinung in Folge langsam ändern.
Natürlich trägt die Kernkraft auch zur Senkung der CO2-Emissionen bei. Aber es ist doch wohl selbstverständlich, dass man heute nur noch klimafreundliche Erzeuger baut.
23. Mythos: Kernkraftwerke sind nicht CO2-neutral
09:34 Harald Lesch: “Wir müssen an die Kernenergie ran, denn die produziert zwar Kohlendioxid beim Bauen […]”
Das ist gar kein Mythos. Es stimmt, die Kernkraft ist nicht CO2-neutral. Aber auch alle anderen Erzeuger sind nicht CO2-neutral.
Wie vorher schon bei der Sicherheit, müssen wir wieder vergleichen zwischen Kernkraftwerken und ihren Alternativen.
Klimafreundliche Erzeuger wie Kernkraftwerke, Solaranlagen, Windräder und Wasserkraftwerke emittieren alle um 2 Größenordnungen weniger CO2 als fossile Erzeuger. Kernkraft ist sogar die klimafreundlichste Energiequelle von allen.
Das soll nicht heißen, dass Solar, Wind und Wasser schlecht sind. Wir brauchen alle klimafreundlichen Energiequellen!
24. Mythos: Der Bau von Kernkraftwerken dauert zu lange
14:25 Harald Lesch: “Herkömmliche Kernkraftwerke […] brauchen von der Planung bis zum Einsatz […] circa 15 Jahre und Standard Wind-Anlagen oder Photovoltaik-Anlagen sind mit 2 bis 5 Jahren am Start”
Die Quelle für die 15 Jahre würde ich gerne sehen. Die reine Bauzeit von Kernkraftwerken beträgt halb so lange, nämlich im Schnitt 7,5 Jahre. 27
Besonders ironisch ist, dass es hier um Mini-Reaktoren geht. Die haben den Anspruch deutlich schneller zubaubar zu sein als Reaktoren der Gigawatt-Klasse.
Zumindest vergleicht Harald Lesch endlich die Alternativen. Aber es reicht nicht ein Kernkraftwerk mit einem Windrad zu vergleichen. Ein einziges Kernkraftwerk erzeugt so viel Strom wie 4.000 bis 6.000 Windräder. 28 Und als Backup musst du noch 2-3 Gaskraftwerke zu den Windrädern bauen.
Wenn man sich die zugebaute Stromerzeugung pro Person und Jahr anschaut, dann ist der Ausbau von Kernkraft deutlich schneller als bei Wind und Solar.
Dieses Argument wäre dann zulässig, wenn wir in weniger als 10 Jahren vollständig dekarbonisiert sein könnten. Das glauben aber nicht einmal die optimistischsten Experten.
25. Mythos: Lizenzierung von kleinen Reaktoren ist schwieriger
14:54 Harald Lesch: “Wir haben es nämlich mit einem Reaktor-Typ zu tun, der völlig neu ist. Und der muss genehmigt werden”
Die kleinen Reaktoren sind nicht völlig neu. Von den 20 am weitesten fortgeschrittenen SMR-Designs, sind die Hälfte Leichtwasserreaktoren. 29
Das sind also die bekannten Siedewasserreaktoren (BWR) und Druckwasserreaktoren (PWR), die auch in Deutschland im Einsatz sind. SMRs sind sogar noch minimalistischer und deshalb einfacher zu lizenzieren.
Auch viele der verbleibenden Reaktor-Designs sind nicht grundsätzlich neu. Es gibt mit gasgekühlten, graphitmoderierten Reaktoren fast so viel Erfahrung wie mit Leichtwasserreaktoren.
Auch mit flüssigem Metall gekühlte Reaktoren sind mit den BN-Reaktoren bereits im kommerziellen Einsatz. Richtig neu dürften im kommerziellen Betrieb nur die 4 Flüssigsalzreaktor-Designs sein.
Wie Harald Lesch selbst sagt, ist die Lizenzierung eine Formalität. Die kann man verlangsamen oder beschleunigen. Die US NRC hat erst letztes Jahr ihre Regeln geändert, um die Lizensierung von neuen Reaktordesigns zu beschleunigen.
Kein Wunder, dass 8 der 20 führenden SMR-Startups in den USA angesiedelt sind. Auch kein Wunder, dass in Deutschland kein einziges Reaktor-Startup angesiedelt ist, obwohl wir mit dem Dual Fluid Reaktor ein vielversprechendes Konzept haben.
26. Mythos: Kernkraft taugt nicht zum Klimaschutz
18:05 Harald Lesch: “Wäre die Kernenergie sicherer, schneller zur Verfügung und billiger dann könnte die Kernenergie in Form von kleinen modularen Reaktoren tatsächlich helfen.”
Werden kleine modulare Reaktoren billiger, sicherer und schneller zubaubar sein als aktuelle Kernkraftwerke? Ich habe da meine Zweifel, besonders beim Preis.
Das ist aber reine Kaffeesatzleserei. Es gibt noch kein serienreifes Modell. Die ersten Prototypen in Russland, China und Argentinien sind fertiggestellt. Weitere Prototypen in den USA, Russland, Kanada, Südkorea sowie Dänemark und Großbritannien sollen folgen.
Wir müssen aber nicht auf neue Reaktor-Designs warten, schon gar nicht in Deutschland. Aktuelle Gigawatt-Reaktoren sind bereits billiger, sicherer und schneller zubaubar als die klimafreundlichen Alternativen Solar und Wind.
Fazit
Kernkraft und Doppelstandards
Wenn du nur ein Fazit aus diesem Fact Check mitnimmst, dann lass es die Abwägung von Alternativen sein. Wir müssen Kernkraftwerke immer mit alternativen Erzeugern vergleichen, z.B. bei:
- Emissionen
- Vollkosten
- Sicherheit
- Zubau-Geschwindigkeit
- Flächenbedarf
- Ressourcenbedarf
- Müllmengen
- Blackout-Risiko
Aber bitte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Harald Lesch vergleicht hier lediglich Teile der Gesamtkosten oder die Zubaugeschwindigkeit eines einzigen Windrades mit einem einzigen Kernkraftwerk.
Oder er sucht sich unter hunderten Einzelstudien die Studie mit den höchsten CO2-Emissionen und die mit den höchsten Umweltschäden heraus. Solches Cherrypicking ist unter Wissenschaftlern verpönt.
Nur durch faire Vergleiche lassen sich Doppelstandards vermeiden.
Noch mehr Kernkraft-Mythen von Harald Lesch
Es gibt sogar noch ein älteres Anti-Kernkraft-Video von Harald Lesch zum Nischenthema Flüssigsalz-Reaktoren namens “Atomkraft ohne Risiko? Der Flüssigsalzreaktor” (2017). Harald Lesch macht dort noch deutlich mehr Fehler als in den drei hier betrachteten Sendungen, siehe Video-Antwort von Felix Letkemann.
Viele der Falschaussagen in den Videos lassen sich durch eine kurze Google-Suche widerlegen. Gibt es bei Terra X keinen Fact-Checker?
Dass wir in Deutschland seit 2002 keinen Strom mehr importieren, ist eigentlich sogar eine glatte Lüge von jemandem, der es wirklich besser wissen sollte.
Warum spickt man fünf Videos mit Falschaussagen, wenn man neutral und unbefangen über ein Thema aufklären will? Das hat ein starkes ideologisches Gschmäckle.
25 Kernkraft-Mythen: das Anti-Atom-Bullshit-Bingo
Es sind eigentlich immer die gleichen Argumente, die man von Kernkraftgegnern hört, die es mit den Fakten nicht so genau nehmen.
Vom Verein Nuklearia gibt es passend dazu das Anti-Atom-Bullshit-Bingo: Bingo spielen mit den 25 gängigsten Kernkraft-Mythen.
Besonders eifrige Kernkraftgegner haben sogar ganze 100 Gründe gegen Atomstrom zusammengetragen. Hier ist der Fact-Check dazu.
Ist Harald Lesch ein Technologie-Pessimist?
Je mehr ich von Harald Lesch sehe, desto mehr bekomme ich den Eindruck, er ist seit den Tagen von Alpha Centauri zum Technologie-Pessimisten geworden.
Er sagt ganz direkt, dass es ein Fehler sein soll, Probleme mit schlechter Technologie durch bessere Technologie zu lösen. Lieber sollen wir auf Technologie verzichten durch Verhaltensänderungen.
Andererseits bewirbt er Desertec als Alternative zur Kernkraft. Das enorm ambitionierte technologische Unterfangen ist schon einmal gescheitert. Da kann man auch gleich Atlantropa wiederbeleben.
Zugegeben, ich war vor vielen Jahren auch mal ein großer Fan von Desertec. Aber man muss schon über sehr viele Probleme hinwegsehen, um so ein Projekt für realistisch zu halten.
Pragmatische Klimaschützer hören auf die Experten vom Weltklimarat. Die sagen, wir müssen schnellstmöglich alle klimafreundlichen Energiequellen ausbauen – ja, auch die Kernkraft.
Fazit: So geht Wissenschaftsjournalismus nicht
Technologiefeindlich oder nicht: Es ist auf jeden Fall sehr enttäuschend, wenn ein Verfechter der Wissenschaft Mythen über die Kernkraft unhinterfragt nachplappert.
Harald Lesch ist sich nicht einmal zu schade, Kernkraftwerke mit Atombomben zu verknüpfen. Das ist der älteste Trick aus der Rhetorik-Kiste der Kernkraftgegner.
Und das kommt in einem Tonfall, wie bei einem Vertreter von “Ausgestrahlt”. Einmal meint Harald Lesch sogar die Kernspaltung sei perfide. Kernkraftwerke sind also hinterhältig oder niederträchtig? Echt jetzt!?
Im Video von 2024 präsentiert er uns sogar ohne jede Ironie einen Tauchsieder als Alternative zu AKW. Der macht schließlich auch Wasser heiß. Und der Strom dazu kommt ja aus der Steckdose…
Wer so einen Wissenschaftsjournalismus hat, braucht zumindest keine Wissenschaftsleugner mehr. Das ist dann schon gleich mit erledigt…
Mensch Harald, you were the chosen one!
Updates:
- 21.05.2021: Erstmals veröffentlicht mit Fact Check zu 2 Videos von 2019 und 2021
- 03.06.2021: Überarbeitet mit 3. Video von 2021
- 17.05.2024: Überarbeitet mit 4. Video vom Mai 2024
- 22.10.2024: Überarbeitet mit 5. Video vom Oktober 2024
Quellen
- What is different about different net-zero carbon electricity systems? Baik et al (2021)
- Atommüll – Ungelöstes, unlösbares Problem? Moormann (2021)
- Interim Summary Report of the Safety Case Posiva (2010)
- Technology-specific Cost and Performance Parameters IPCC (2014)
- Life Cycle Assessment of Electricity Generation Options UNECE (2021)
- Figure 7.6 IPCC (2014)
- 90 GBP/MWh von 2015 auf 2024 inflationsbereinigt Bank of England (2024)
- 3,2 GW, 60 Jahre Laufzeit, 85% Kapazitätsfaktor, 2 Ct/kWh Betriebskosten
- Technical assessment of nuclear energy with respect to the ‘do no significant harm’ criteria of Regulation (EU) 2020/852 (‘Taxonomy Regulation’) EU Joint Research Centre (2021)
- Methodenkonvention 2.0 UBA (2012)
- Is a 100% renewable European power system feasible by 2050? Zappa et al (2019)
- Das Interview: “Wir versichern ausschließlich die friedliche Nutzung der Kernenergie” GDV (2007)
- Lessons from Fukushima: Latest Findings of Thyroid Cancer After the Fukushima Nuclear Power Plant Accident Yamashita et al (2018)
- Sources, effects and risks of ionizing radiation UNSCEAR (2021)
- Atomrückstellungen für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung BUND (2014)
- Kommerzieller Außenhandel SMARD (2021)
- System LCOE: What are the costs of variable renewables? Ueckerdt et al (2013)
- Lovering (2016)
- Nuclear is a Crucial Piece of the Carbon-Free Puzzle Ruishalme (2018)
- Discounting and costs (Part 2): IPCC WGIII report on mitigation Korhonen (2014)
- Ultrahigh and economical uranium extraction from seawater via interconnected open-pore architecture poly(amidoxime) fiber Xu et al (2020)
- Breeder reactors: A renewable energy source Cohen (1983)
- Largest 10-year deployments of low-carbon electricity generation Chalmers (2020)
- Why Nuclear Energy Programs Rarely Lead to Proliferation Miller (2017)
- United Kingdom Support for five Offshore Wind Farms: Walney, Dudgeon, Hornsea, Burbo Bank and Beatrice European Comission (2014)
- Schriftliche Anfrage von Dr. Paul Laufs (CDU/CSU) Antworten der Bundesregierung (2002)
- How long does it take to build a nuclear power plant? Mearns (2016)
- Annahmen – Kernkraft: 1600 MW, 90% Kapazitätsfaktor, 60-90 Jahre Laufzeit – Wind an Land: 3 MW, 25% Kapazitätsfaktor, 30 Jahre Laufzeit
- Small Nuclear Power Reactors World Nuclear Association (2021)