Der Kohleausstieg ist beschlossen. Aber ist das Ende der Kohleverstromung wirklich bis 2038 oder gar 2030 möglich? Und ist es sinnvoll?
Inhalt
Kohle verursacht von den großen Energiequellen die übelsten Schäden bei Klima, Umwelt und Gesundheit.
Der geplante deutsche Kohleausstieg bis 2038 ist also lobenswert und noch mehr der beschleunigte Kohleausstieg bis 2030.
Aber wir sollten nicht das Kind mit dem Badewasser ausschütten. Unsere Kohlekraftwerke können noch wichtig sein um Engpässe bei der Stromversorgung zu meistern.
Statt Kohlekraftwerke abzuschalten, sollten wir möglichst bald deutlich weniger Kohle verbrennen. Ein 99%-iger Kohleausstieg ist besser als ein 100%-iger
Es ist dem Klima egal, wann wir die Kohlekraftwerke abschalten, ob heute oder 2050. Es kommt darauf an, wie viel Kohle wir verbrennen.
Uns wird gar nichts anderes übrig bleiben als die Kohlekraftwerke weiter zu betreiben. Wir bauen viel zu wenige Gaskraftwerke.
Kohleausstieg Deutschland bis 2030: Was ist das Problem?
Wir können nicht abschalten ohne vorher anzuschalten. Die gesicherte Leistung aus Kohlekraftwerken muss ersetzt werden durch den Zubau von Gaskraftwerken.
Solarstrom und Windkraft steuern fast keine gesicherte Leistung bei. Die Sonne scheint nachts nicht und Windflauten passieren häufig.
Selbst eine Verzehnfachung von Wind und Solar ermöglicht keinen Kohleausstieg. 100 GW Windkraft können lediglich ein Kohlekraftwerk mit 1 GW ersetzen. 100 GW Solar können gar nichts ersetzen.
Der späte Kohleausstieg liegt also nicht am schleppenden Ausbau der Erneuerbaren. Wir könnten sofort alle Kohlekraftwerke abschalten, wenn wir genug Gaskraftwerke oder Kernkraftwerke hätten.
Wir hätten sogar schon vor Jahren aus der Kohle aussteigen können, statt aus der Kernkraft. Aber trotz Klimakrise und Energiekrise ziehen wir den Atomausstieg durch.
Ist der Kohleausstieg bis 2030 überhaupt möglich, wie er von Grünen, SPD und FDP gewünscht wird? Und ist ein Kohleausstieg überhaupt sinnvoll?
Was hat der Ukrainekrieg für Erdgas als Brückentechnologie zu bedeuten?
Kohleausstieg = Erdgaseinstieg: Wie viele Gaskraftwerke brauchen wir?
Der Ausstieg aus der Kohleverbrennung bis idealerweise 2030 ist ein Ziel der Ampel-Koalition.1 Bevor wir aber Kohlekraftwerke stilllegen können, müssen wir deren gesicherte Leistung ersetzen durch andere regelbare Kraftwerke.
Der einzige realistische Ersatz für Kohlekraftwerke sind Kraftwerke für fossiles Erdgas. Bis 2030 brauchen wir zwischen 70 GW2 und 80 GW3 gesicherte Leistung aus Gaskraftwerken um Kohlekraftwerke vollständig ersetzen zu können. So hoch wird 2030 die maximale Residuallast erwartet abzüglich flexibler Lasten.
Heute haben wir 31,5 GW installierte Kapazität Gaskraftwerke inklusive Reserve. Im Bau sind aktuell weitere 3,5 GW Gaskraftwerke.4 Bis 2030 werden rund 6 GW Gaskraftwerke altersbedingt stillgelegt.5
Es fehlen also zwischen 40 GW und 50 GW elektrischer Leistung an Gaskraftwerken bis 2030 für einen vollständigen Kohleausstieg. Zusätzlich müssen gut 15 GW thermisch an Fernwärme mittels Kraft-Wärme-Kopplung künftig durch Gaskraftwerke bewältigt werden.6 Das entspricht weiteren 5 GW elektrisch. Die größten Gaskraft-Blöcke haben rund 0,5 GW elektrische Leistung. Wir bräuchten also mindestens 100 neue Kraftwerksblöcke bis 2030, selbst wenn die allermeisten dieser Blöcke riesig sind.
Ukrainekrieg: Erdgas als Brückentechnologie ist gestorben
Der Ukrainekrieg hat alles verändert:
- Erdgas als Brückentechnologie der Energiewende ist gescheitert.
- Wir reaktivieren Kohlekraftwerke statt sie stillzulegen.
- Der Kohleausstieg “idealerweise bis 2030” ist gestorben.
- Der Kohleausstieg bis 2038 ist gefährdet.
Erdgas sollte das Rückgrat der Energiewende sein. Durch die Energiekrise 2021 und Putins weitere Eskalation mit dem Großangriff auf die Ukraine 2022 ist Erdgas allerdings keine Option mehr.
Wir werden in Europa mindestens bis zum Winter 2025 brauchen um russische Gasimporte ersetzen zu können.7 Die Gaspreise bleiben noch mehrere Jahre auf historischen Höchstständen.8
In so einem Geschäftsklima wird niemand freiwillig in Gaskraftwerke investieren. Es ist sogar egal, dass Erdgas jetzt als grün in der EU-Taxonomie gilt. Kohle ist das neue Erdgas.
Das erste eingemottete Kohlekraftwerk ging bereits zurück an den Strommarkt.9 Weitere werden folgen, um einen möglichen Blackout in den kommenden Wintern zu vermeiden.
Laut einer Kurzstudie der Uni Erlangen wird in den kommenden Jahren so viel Kohle wie möglich verbrannt werden. Die enorm gestiegenen Gaspreise dürften zu einer Minimierung der Gasverstromung führen.10
Das Paper sieht nicht nur den Kohleausstieg bis 2030 in Gefahr, sondern sogar den bis 2038. Allein durch Marktmechanismen und CO2-Bepreisung wird es keinen Kohleausstieg geben.
Fact Check: War der Zubau von 100 Gaskraftwerken überhaupt realistisch?
Erdgas als Brückentechnologie ist gestorben. Aber selbst vor dem Ukrainekrieg setzte der enorme Bedarf an Gaskraftwerken eine Grenze.
Bei neuen Gaskraftwerken rechnet man mit 4 bis 7 Jahren reiner Bauzeit.11. Dazu kommt noch Planung und Projektierung, wobei die Gaskraftwerke größtenteils an Standorten abzuschaltender Kohlekraftwerke gebaut werden könnten. Selbst wenn man von einer beschleunigten Planung ausgeht müssten alle gut 100 Gaskraftwerke parallel gebaut werden.
Das wäre mit großem Abstand der massivste Kraftwerksausbau, der jemals in so kurzer Zeit irgendwo auf der Welt versucht wurde. Gibt es überhaupt genug spezialisierte Unternehmen, um 100 Großbaustellen gleichzeitig zu unterhalten? Wo sollen die Facharbeiter dafür herkommen und wo die 100 Gasturbinen?
Der Zubau von 100 Gaskraftwerksblöcken scheint äußerst unrealistisch bis 2030. Selbst der Zubau von rund 30 GW Erdgas bis 2030 für den bisher geplanten langsamen Kohleausstieg bis 2038 wird nicht mehr zu schaffen sein. Das wären immer noch 60 der größten Gaskraftwerksblöcke.
Für jedes nicht rechtzeitig fertiggestellte Gaskraftwerk wird ein Kohlekraftwerk weniger abgeschaltet. Wenn die Versorgungssicherheit in Gefahr ist, gibt die Bundesnetzagentur ihr Veto. Zum Beispiel wurde das Kohlekraftwerk Heyden 4 bereits in der ersten Ausschreibungsrunde zum Kohleausstieg als systemrelevant eingestuft und in die Reserve überführt.
Auslastung: Wie häufig werden Backup-Kraftwerke gebraucht?
Das oben ist ein Graph der zu erwartenden Auslastung im Jahr 2030 für Backup-Kraftwerke mit Wetterdaten von 2015 bis 2021. Annahme ist, dass die Ausbauziele der Koalition in der EEG Novelle 2022 erreicht werden und der projektierte Stromverbrauch von 700 TWh/a ebenso. 12:
- 70% Auslastung bei den 5 GW am meisten genutzter Backup-Leistung
- 0,05% Auslastung bei den 5 GW am wenigsten genutzter Backup-Leistung
Die am wenigsten genutzten 5 GW Kraftwerkskapazität werden im Schnitt nur 4 Stunden pro Jahr gebraucht. Von den 6 betrachteten Jahren kommen sie sogar nur in einem Jahr überhaupt zum Einsatz. Mit den Wetterdaten vom 24. Januar 2017 ergibt sich eine 24-stündigen Extremsituation innerhalb einer längeren Dunkelflaute.13 Die restlichen 5 Jahre stehen sie still.
Es ist für das Klima fast egal, ob diese 4 Jahresstunden jetzt mit 5 GW Kohlekraftwerken oder Erdgaskraftwerken gedeckt werden. Wenn man heute 5 GW Erdgaskraftwerke neu bauen muss, ist das ebenfalls klimaschädlich. Noch klimaschädlicher wäre die für einige Kohlekraftwerke geplante Umrüstung auf Holzverbrennung.
Die am wenigsten genutzten 15 GW Kraftwerkskapazität werden zwar schon jedes Jahr gebraucht, aber auch nur 34 Jahresstunden im Schnitt. Laut Kohleausstiegsgesetz sollen 2030 noch 15 GW Kohlekraftwerke am Netz sein. Wenn die alle in der Sicherheitsreserve landen, wäre das für das Klima nicht schlechter als der Neubau von 15 GW Gaskraftwerken.
Angenommen alle 40 GW Kohlekraftwerke, die heute noch am Netz sind, würden in die Sicherheitsreserve überführt werden. Sie würden im Schnitt 319 Jahresstunden laufen, also mit 3,6% Auslastung. Sie müssten pro Jahr nur 1,6 TWh Strom produzieren, also 0,2% des Jahresstromverbrauchs. Zum Vergleich: 2021 stammten noch 162 TWh Elektrizität aus Kohle 14 mit rund 60% Auslastung bei Braunkohlekraftwerken und rund 30% Auslastung bei Steinkohlekraftwerken. Wir würden also zu gut 99% aus der Kohle aussteigen.
Backup CO2: Wie klimaschädlich ist ein Scheitern des Kohleausstiegs?
Kohle ist der dreckigste Energieträger. Jeden Tag sterben mehr als 10.000 Menschen an Luftverschmutzung15, ein Großteil davon durch Kohleverbrennung. Kohle hat außerdem die höchsten Treibhausgasemissionen.
Aber auch Erdgas stößt immer noch halb so viele Treibhausgase aus wie Kohle bei Berücksichtigung des Methanschlupfes. Laut Weltklimarat sind es rund 1000gCO2/kWh für Kohle und 500gCO2/kWh für Erdgas16
Im Jahr 2030 wollen wir die CO2-Emissionen pro Jahr auf 440 Millionen Tonnen senken (Klimaziel 65% Reduktion gegenüber 1990).17
Wie viele CO2-Äquivalente würden wir zusätzlich ausstoßen, wenn im Jahr 2030 die am wenigsten genutzten Backup-Kraftwerke Kohlekraftwerke statt Gaskraftwerke sind?
- 05 GW Kohle-Reserve: 0,01 Mio. tCO2/Jahr – 0,00% des CO2-Budgets 2030
- 15 GW Kohle-Reserve: 0,25 Mio. tCO2/Jahr – 0,06% des CO2-Budgets 2030
- 30 GW Kohle-Reserve: 0,39 Mio. tCO2/Jahr – 0,09% des CO2-Budgets 2030
- 40 GW Kohle-Reserve: 0,80 Mio. tCO2/Jahr – 0,18% des CO2-Budgets 2030
Zum Vergleich, im Jahr 2021 verursachte die Kohleverstromung gut 160 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. Kohlekraftwerken in der Reserve sind also ungemein weniger klimaschädlich als die heutige Dauernutzung von Kohlekraftwerken. Das gilt selbst dann, wenn wir die heutige Kapazität von 40 GW beibehalten.
Kohlekraftwerke in der Reserve können viel Geld sparen, welches man besser in andere Klimaschutzmaßnahmen stecken könnte. Die CO2-Vermeidungskosten um 40 GW Kohle-Reserve durch neugebaute Gaskraftwerke zu ersetzen liegen grob geschätzt bei rund 50.000 Euro pro Tonne CO2 – unter der Annahme, dass ein Gaskraftneubau von einem GW rund eine Milliarde Euro kostet. Das ist extrem teuer im Vergleich zu üblichen CO2-Vermeidungskosten im zweistelligen oder niedrigen dreistelligen Bereich.
Zugegeben, das ist eine recht naive Betrachtung. Kohlekraftwerke unterliegen technischen Beschränkungen und können nicht einfach mal für eine Stunde Strom erzeugen. Sie können auch nicht eingemottet werden und trotzdem in wenigen Stunden startbereit sein. Das gilt insbesondere für Braunkohle, wo Förderung und Verbrennung eng verknüpft sind.
So lange wir Dunkelflauten von 24+ Stunden mindestens einen Tag vorhersagen können, sollten Kohlekraftwerke allerdings rechtzeitig einsatzbereit sein. Die CO2-Emissionen dürften zwar inklusive An- und Abfahren sowie eventueller Leerlaufzeiten höher sein. Aber auch bei einer Verdopplung, wäre das immer noch sehr wenig.
Wenn wir effizienten Klimaschutz betreiben wollen, lassen wir den Kohleausstieg platzen. Es kommt nicht darauf an Kohlekraftwerke abzuschalten, sondern so wenig Kohle wie möglich zu verbrennen.
Wenn man sich die ganzen Probleme beim Zubau von Gaskraftwerken ansieht, ist der Kohleausstieg sowieso schon gescheitert. Mehr dazu im Rest des Artikels.
Finanzierung von Gaskraftwerken: EU Taxonomie & Kapazitätsmarkt
100 Gaskraftwerke wollen erstmal finanziert sein, zumal es immer schwieriger wird damit Geld zu verdienen. Wie bereits bei der Auslastung erwähnt, steht die Hälfte der Gaskraftwerke 95% der Zeit still. Im Schnitt über alle Backup-Kraftwerke sind es magere 24% Auslastung – falls die Ampel-Ausbauziele für Wind und Solar 2030 erreicht werden.
Bei den Gestehungskosten wird mit rund 70% Kapazitätsfaktor bei GUD-Kraftwerken und 30% bei offenen Gasturbinen gerechnet.18 Wenn die Gaskraftwerke deutlich weniger benötigt werden, steigen die Kosten pro kWh, weil die Fixkosten für Bau und Instanthaltung mehr ausmachen.
Die mageren Aussichten auf Profite locken also keine Investoren mehr. Auch andere Risiken von Gaskraftwerken sind nicht absehbar. Schon heute protestieren Aktivisten gegen Erdgas-Infrastruktur. Selbst die Grünen-Basis und Energiewendebefürworter wie Kemfert sprechen sich gegen Erdgas aus. Und das obwohl Erdgas für den Kohleausstieg und die Energiewende unbedingt gebraucht wird.
Das alles macht die Finanzierung nicht einfach, trotz erfolgreichem deutschen Greenwashing in der EU-Taxonomie. Deutschland hat es geschafft fossiles Erdgas als Brückentechnologie deklarieren zu lassen, obwohl es klimaschädlich ist. So sollen Investoren gelockt werden, die nach “grünen” Investments suchen.
Energiekonzerne erwarten aber keinen Neubau von Gaskraftwerken durch die EU-Taxonomie 19 Laut der Gaslobby sind Neubauten ohne einen Kapazitätsmarkt nicht rentabel.20
In einem Kapazitätsmarkt wird das Vorhalten von Backup-Kapazität bezahlt anders als im deutschen “Energy-Only”-Markt, wo nur die Bereitstellung von Energie entlohnt wird. Immer mehr Länder richten einen Kapazitätsmärkte ein. In Deutschland soll es keinen Kapazitätsmarkt geben. Wir haben stattdessen ab dem Winter 2020/2021 eine Kapazitätsreserve eingerichtet, aber nur für 2 GW Leistung. Das ist ein schlechter Witz.
Wasserstoff-Gaskraftwerke: Umrüstung von Methan & H2-Ready
Erschwerend kommt beim Bau der Gaskraftwerke die vorgesehene Umrüstung auf Wasserstoff hinzu. Die soll laut Klimaminister Habeck bereits im Jahr 2035 passieren, also nur kurz nach dem beschleunigten Kohleausstieg.21 Es müssten also die Brennkammern aller neugebauten Gaskraftwerke ausgetauscht werden, bevor sich diese Kraftwerke auch nur annähernd amortisiert haben.
Auch technisch ist die Umstellung auf Wasserstoff alles andere als einfach. Auf Netzgröße skalierbare Wasserstoffkraftwerke gibt es noch nicht einmal auf dem Papier.22 Die Wasserstoffversprödung von Stahl ist ein großes Problem. Wegen dem Auftreten von atomaren Wasserstoff bei hohen Temperaturen ist die Verbrennung von Wasserstoff noch schwieriger zu handhaben als die Lagerung und Transport. Auch diese Fragen der Gasinfrastruktur sind ungeklärt.
Das höchste der Gefühle sind heute 25% Beimischung von Wasserstoff zum Erdgas bei der Verbrennung in großen Gasturbinen. Im deutschen Erdgasnetz sind bisher aber nur 10% Beimischung möglich mit eventueller Aufrüstung auf 20%.23 Wasserstoff-Technologie wirkt so unausgereift, wie Photovoltaik in den Achtzigern. Sie soll aber im Rekord-Tempo zur Marktreife subventioniert werden.
Die Stolpersteine bei der Entwicklung einer reinen Wasserstoffwirtschaft könnte die Methanisierung als Alternative attraktiv machen. Grünes Methan könnte man problemlos in Erdgasnetzen speichern und in heutigen Gaskraftwerken verbrennen, ohne teure und langwierige Umrüstungen. Die Wirkungsgrade sind etwas schlechter aber im Vergleich zu den sowieso nötigen Wasserstoff-Importen nicht signifikant. Das dafür nötige Carbon Capture ist allerdings noch völlig unausgereift.
Die Einrichtung einer globalen Wasserstoffwirtschaft bis 2040 mit reiner Wasserstoff-Infrastruktur und signifikanten Importen von grünem Wasserstoff klingt nach einem Luftschloss. Wenn das scheitert, bleiben wir beim klimaschädlichem Erdgas.
“Wasserstoff-Import” kann man quasi als Codewort für “Nord Stream 2” lesen.
Fazit zum Kohleausstieg Deutschland bis 2030 / 2038
Ein 99%-iger Ausstieg aus der Kohle wäre besser für das Klima als ein 100%-iger. Weder bis 2030 noch bis 2038 sollten wir mehr Kohlekraftwerke abschalten als altersbedingt nötig.
Für effektiven Klimaschutz behalten wir möglichst viele Kohlekraftwerke als minimal genutzte Reserve. Das schadet dem Klima kaum und spart viel Geld, welches an anderer Stelle mehr bewirkt.
Es kommt nicht darauf an, wann wir die Kohlekraftwerke abschalten. Es kommt darauf an, wie viel Kohle wir noch verbrennen.
Leider hat díe durch den Ukrainekrieg eskalierte Energiekrise dafür gesorgt, dass Erdgas als Brückentechnologie gestorben ist. Wir werden also noch sehr viel Kohle verbrennen…
Updates:
- 09.02.2022: Erstmals veröffentlicht.
- 03.08.2022: Update mit der Bedeutung des Ukrainekriegs.
Quellen
- Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP Bundesregierung (2021)
- Klimapfade 2.0 BDI (2021)
- Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem Fraunhofer ISE (2021)
- Kraftwerksliste Bundesnetzagentur (2021)
- Versorgungssicherheit Strom BDEW (2021)
- Datenbank “Kraftwerke in Deutschland” Umweltbundesamt (2021)
- Europäische Gasversorgungssicherheit aus technischer und wirtschaftlicher Perspektive vor dem Hintergrund unterbrochener Versorgung aus Russland Fraunhofer (2022)
- Dutch TTF Natural Gas Calendar Month CMEGroup (2022)
- Erstes Steinkohlekraftwerk aus Reserve geht in Betrieb Handelsblatt (2022)
- Kohleausstieg 2030 unter neuen Vorzeichen Egerer et al (2022)
- Gaskraftwerke für Klimaschutz FAZ (2021)
- Energiewende-Tool Science Media Center (2022)
- Stresstest für den vorgezogenen Kohleausstieg Science Media Center (2021)
- Struktur der Stromerzeugung in Deutschland 2021 AG Energiebilanzen (2021)
- Air Pollution Our World in Data (2021)
- Fünfter Sachstandsbericht des IPCC Weltklimarat (2014)
- Treibhausgasminderungsziele Deutschlands Umweltbundesamt (2021)
- Projected Costs of Electricity IEA (2020)
- Energiekonzerne glauben nicht an neue Gaskraftwerke durch EU-Taxonomie Redaktionsnetzwerk Deutschland (2022)
- EU-Taxonomie reicht als Investitionssicherheit für Gaskraftwerke nicht aus Zukunft Gas (2022)
- Habeck kündigt Pakete für Ostern und den Sommer an Klimareporter (2022)
- Auf dem Weg zum Wasserstoffkraftwerk VDI Nachrichten (2021)
- H2-ready: MAN-Gasmotoren ermöglichen Wasserstoffeinsatz in Kraftwerken MAN (2021)
Es ist geplant, dass die fehlende Leistung (z.B. bei Dunkelflauten) durch noch zu errichtende Gaskraftwerke und durch Stromlieferung aus Nachbarländern ersetzt werden soll. Aus vielen Gründen ist zu bezweifeln, dass ersteres rechtzeitig in dann ausreichenden Maßen gelingen wird und dass letzteres jederzeit stattfinden kann.
Deshalb habe ich schon 2019 zusammen mit D. Böllert und R. Jaschke, ADAICA, eine ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich deutlich bessere Lösung vorgeschlagen. Sie erfordert weniger staatliche Förderung, führt zu geringeren Kosten für die Raumheizung und Warmwasserbereitung in Millionen Gebäuden, vernichtet keine Ländereien, lässt sich gegenüber Gaskraftwerken in viel kürzerer Zeit verwirklichen, erzielt dabei niedrigere Stromerzeugungskosten und ermöglicht die Stromerzeugung in Millionen Fällen direkt beim Stromverbraucher. Mit diesem Modell können die Probleme der Energiewende (genauer: Stromwende) nicht gänzlich gelöst, jedoch abgeschwächt werden.
In Deutschland sind in den nächsten Jahren mehrere Millionen veraltete Gas- und Ölheizungen zumeist entweder durch Wärmepumpen oder durch Gasthermen zu erneuern. Angeblich sind mindestens 3 Mio Ölheizungen älter als 20 Jahre. Nur ein Beispiel: Würde ein Drittel hiervon auf SWA mit durchschnittlich 20 kW/SWA, d.h. entsprechend 50000 SWA, umgestellt, so würde dies einer verfügbaren Gesamtleistung von 20 Mio kW oder 20 GW entsprechen, also mindestens 20 Gas-Großkraftwerken! Würde man – wo Erdgasnetze vorhanden oder Flüssiggastanks möglich sind – SWA (Stromwärmeanlagen) installieren, so entstünde dadurch eine enorme, jederzeit verfügbare elektrische Leistung. Gaskraftwerke haben einen Wirkungsgrad von ca. 50 %, dagegen die SWA von ca. 80 %, weil die bei der Stromerzeugung in Gaskraftwerken entstehende Abwärme nicht in Kühltürmen vernichtet, sondern damit Heizwärme und Warmwasser erzeugt wird. Deshalb würde durch SWA auch der Primärenergie- und der Endenergiebedarf Deutschlands verringert.
SWA sind weiterentwickelte, in Bezug auf den jeweiligen Wärmebedarf des Gebäudes überdimensionierte Mini-Blockheizkraftwerke. Sie würden in Wohnhäusern und gewerblichen Bauten mit staatlicher Förderung nicht von den Gebäudebesitzern, sondern von den Stadtwerken bzw. regionalen Stromversorgern im Gebäude installiert und per Pachtvertrag von ihnen betrieben, d.h. durch sie würde die Wärmelieferung für Heizung und Warmwasser sowie für die Einspeisung des erzeugten Stroms in das Stromversorgungsnetz erfolgen. Auch Fälle, bei denen die SWA dem Gebäudebesitzer gehört und ihr Betrieb verpachtet wird, sind denkbar.
Um geringe Anschaffungskosten zu erzielen, wären die SWA standardisiert für eine elektrische Leistung von 15, 30, 60, 120 kW.
Nur von Frühjahr bis Herbst, wenn kaum oder nur für die Warmwasserbereitung Heizwärme benötigt wird, gibt im Fall von dringend benötigter elektrischer Energie die standardisierte SWA die Abwärme über ein Gebläse an die Umgebungsluft ab, was bei Gaskraftwerken ständig der Fall ist. Auch hat die SWA gegenüber Gaskraftwerken den Vorteil, dass im Fall von überschüssigem Strom aus PVA dieser nicht an Nachbarländer verschenkt oder sogar mit finanziellen Verlusten verschleudert werden muss, sondern in den SWA, die einen eingebauten Elektro-Heizstab besitzen, für die Raumheizung und Warmwasserbereitung genutzt wird.
Noch ein weiterer Vorteil der SWA sei erwähnt: Beim Gaskraftwerk muss der erzeugte Strom über das Hoch-, Mittel- und Niederspannungsnetz bis zum Verbraucher (Kosten und Stromwärmeverluste im Netz) transportiert werden, bei den SWA entsteht elektrische Energie direkt beim Verbraucher, z.B. auch für E-Fahrzeuge. Allenfalls muss das Niederspannungsnetz verstärkt werden, weil ein Teil dieser elektrischen Energie in das Mittelspannungsnetz transformiert würde.
Genauso wie die Gaskraftwerke zunächst noch mit zu importierendem Erdgas betrieben werden müssen, später aber mit aus Wasserstoff hergestelltem Gas, würde dies auch für die SWA zu erledigen sein.
An digitale Regelungstechnik sowie an bestimmte elektrotechnische Erfordernisse werden bei SWA-Betrieb hohe Anforderungen gestellt. Deshalb wurde vorgeschlagen, zunächst einen Großversuch durchzuführen. Das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie bestätigte, den Großversuch zu unterstützen unter der Voraussetzung, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie bundesländerübergreifend die Koordination übernimmt. Deshalb wurde letzterem all dies schriftlich berichtet. Darauf erfolgte keine Antwort. Vielleicht befasst man sich erst mit dieser besten aller Notmaßnahmen zur Vermeidung einer Strommangelwirtschaft, wenn mehrere Blackouts eingetreten sind.
Von so manchem Energieexperten oder auch Politiker wurde diese Lösung bisher damit abgetan, dass es sich bei diesem Vorschlag um Althergebrachtes handele, denn Miniblockheizkraftwerke gäbe es schon lange. Von 2010 bis 2020 wurden in Deutschland rd. 17000 MiniBHKW mit einer Leistung zwischen 10 und 50 kW installiert! Doch wer so argumentiert hat die SWA-Konzeption nicht verstanden. Die fundamentalen Unterschiede zwischen den klassischen MiniBHKW und den SWA sind:
SWA werden ausgehend vom Wärmebedarf des Gebäudes um 20 bis 50% überdimensioniert, je nachdem welche Standardleistung gewählt wird, z.B. zwischen 15, 30, 60, 120 kW .
SWA werden nicht von den Gebäudebesitzern betrieben, welche aber zu jeder Zeit die für Raumheizung und Warmwasser benötigte Heizwärme vom Betreiber, dem Stadtwerk oder regionalen Stromversorger, erhalten. Letztere speisen die dabei anfallende elektrische Energie in ihr Stromversorgungsnetz ein.
SWA werden im Bedarfsfall (beispielsweise Dunkelflaute oder Leistungsmangel im Stromversorgungsnetz) auch dann betrieben, wenn keine Heizwärme benötigt wird, z.B. im Sommer. Deshalb müssen sie serienmäßig mit einem Gebläse sowie Zu- und Abluftrohr ausgestattet sein, um die bei der Stromerzeugung anfallende Abwärme an die Umgebungsluft abzuführen, wie dies bei Gaskraftwerken ständig der Fall ist. Dieser Betriebszustand wird aber bei SWA aus verschiedenen Gründen selten eintreten.
Aus vorgenannten Gründen steht bei SWA im Gegensatz zu MiniBHKW die Stromerzeugung im Vordergrund und nicht die Wärmeerzeugung.
Abschließend sei wiederholt, was ich vor zweieinhalb Jahren vorschlug, um die praktische Anwendung dieses Vorschlags herbeizuführen:
1) Ein energiewirtschaftliches Institut, beispielsweise die für solche Themen besonders kompetente Forschungsstelle für Energiewirtschaft in München sollte beauftragt werden, einen Vergleich der Gesamt-Anlage- und -Betriebskosten z.B. je GW zu errichtender Gaskraftwerke mit 50000 SWA durchschnittlicher Leistung von 20 kW gleich 1 GW zu erarbeiten.
2) Vorausgesetzt das Ergebnis von 1) ergibt Vorteile für die SWA, dann sollte eine Ausschreibung für einen Hersteller-Wettbewerb erfolgen zu Vorschlägen für die Herstellung einer standardisierten, auf Großserienproduktion ausgerichteten SWA, wobei auch der Vergleich zwischen Gasmotorantrieb und Gasturbinenantrieb in Bezug auf Wirkungsgrade, Abgase, Geräusche, usw. enthalten sein müsste.
3) Parallel hierzu sollte ein Großversuch vorbereitet und durchgeführt werden, um Erfahrungen für den Betrieb mehrerer hundert SWA in einem bestimmten Stadtgebiet zu sammeln. Die Stadtwerke Essen wären bereit, einen solchen Versuch durchzuführen, wenn die Kosten erstattet würden.
Selbstverständlich werden SWA in großem Umfang nur dann zur Anwendung kommen, wenn sich dabei sowohl für die Besitzer der Gebäude als auch für die Betreiber der SWA, also Stadtwerke oder regionale Stromversorger, deutliche wirtschaftliche Vorteile ergeben. Bei Ersteren müssen erheblich niedrigere Kosten für Heizung und Warmwasser anfallen und bei Letzteren erhebliche Gewinne bei Anschaffung und Betrieb solcher Anlagen in ihrem Versorgungsgebiet. Diese Situation ist nur dann herbeizuführen, wenn für den Staat der SWA-Betrieb geringere finanzielle Belastungen sowie eine geringere CO2-Belastung zur Folge hat, denn der Staat muss für die Folgekosten der Energiewende aufkommen, um die Sicherheit der Stromversorgung aufrechtzuerhalten, also ein Förderprogramm für die Installation und den Betrieb der SWA während vieler Jahre zusichern, weil während dieses Zeitraumes der Bau und Betrieb neuer Gaskraftwerke, die parallel zu diesem Förderprogramm dennoch erforderlich sein werden, jedoch in entsprechend geringerem Umfang, eine noch größere Belastung für den Staat entstünde.
Bernd Stoy / 12. Februar 2022
Also kleine, dezentrale KWK-Anlagen sind aber auch maximal eine Brückentechnologie. Auf Nullemissionen kommt man damit nicht.
Ist das realistischer als der Zubau einer enormen Menge von Gaskraftwerken? Wahrscheinlich.
Ist es besser als ein moderater Zubau von Gaskraftwerken und der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken in der Reserve? Wahrscheinlich nicht.
Ich habe bei der Recherche zu diesem Artikel gelesen (beim BMWI?), dass ungefähr 3,3 GW KWK-Anlagen kleiner 10 MW bis 2030 gebaut werden sollen. Wird das also doch in kleinem Umfang in die Tat umgesetzt?
Pingback: MIWI Institute – Coal phase-out Germany 2030 vs 2038: Is the end of coal necessary and possible?
Ich sehe das recht entspannt. Natürlich kann man ein paar Kohleblöcke in Sicherheitsreserve halten, für wenige Stunden stellt man aber keine teuren GuD Kraftwerke hin. Da tun es billige Gasmotoren, für ganz wenige Stunden sogar Batterien.
https://www.spglobal.com/commodity-insights/en/market-insights/latest-news/energy-transition/022222-uks-2025-26-capacity-market-auction-clears-at-gbp35-30kwyear-for-around-427-gw
Im Vereinigten Königreich gibt es einen Kapazitätsmarkt. Das derating ist da anders, AKW’s gehen da mit 80,44% Verfügbarkeit rein, GuD mit 90,92%, onshore Wind mit 6,25%.
Der Preis variiert stark, aber selbst die jetzt erzielten Rekordpreise von etwas unter 40 Euro pro kW und Jahr für 42,8 GW (nach derating = Anpassung für Verfügbarkeit) sind nicht viel. Das sind 40000 Euro pro MW, bzw 40 Millionen Euro pro GW bzw. etwa 1,6 Milliarden Euro. Teilen wir das durch etwas über 650 Milliarden kWh für Deutschland und Jahr um das Jahr 2030 rum reden wir gerade mal über 0,25 Cent pro kWh für die Bereitstellung von 42,8 GW an gesicherter Leistung.
https://timera-energy.com/record-uk-capacity-price-underpins-flex-investment/
Neubau GuD hat es wieder nicht gegen die Konkurrenz geschafft, Neubau Erdgas ist wieder mal nur open cycle gas turbine und Gasmotoren. Batterien sind auch Gewinner der Auktion (3,3 GW, aber auf etwa 1 GW derated). Batterien sind meines Wissens stark begrenzt, so dass sie auch wirklich nur den Abendpeak in der kalten Dunkelflaute abdecken dürfen.
Frankreich ist diese Woche übrigens ziemlich knapp dran gewesen, Montag gab es einen Preis von fast 3 Euro pro kWh im Morgenpeak. Warum?
https://www.montelnews.com/news/1310805/-french-spot-power-hits-eur-3000-amid-supply-crunch
The supply crunch comes as France’s nuclear output has dropped to a record low. Atomic output at 31,890 MW accounted for only 52% of the country’s total power output, with 27of 56 reactors out of service.
Zur gleichen Stunde war der Preis in Deutschland bei etwa 11 Cent die kWh, Wind sei Dank. Die Leitungskapazität war dementsprechend am Anschlag ausgenutzt (von Deutschland nach Frankreich).
Frankreich und das vereinigte Königreich steigen nicht aus der Atomkraft aus, sehe ich auch generell positiv. Leider ist die Verfügbarkeit der AKW da in der letzten Zeit sehr schlecht.
https://www.carbonbrief.org/analysis-uk-nuclear-output-falls-to-lowest-level-since-1982
Many recent headlines have focused on Germany’s deliberate strategy to end its use of nuclear power, with three of its remaining six reactors having switched off at the start of the year.
Few, though, have noted the significant declines in countries including France and the UK – albeit forced rather than due to policy choices – as ageing reactors come to the end of their lives.
Electricity generation from the UK’s nuclear power plants fell by another 9% in 2021 to just 46TWh, less than half the peak in 1998 and the lowest in nearly four decades.
Ich persönlich halte die Umrüstung von Gaskraftwerken auf Wasserstoff für unnötig. Du hattest in einem anderen Posting erwähnt, dass man Biogas auf Biomethan upgraden kann (durch Abscheidung von CO2). Wenn die Kraftwerke nur für wenige Stunden im Jahr genutzt werden, ist es meiner Einsicht nach völlig in Ordnung, die mit Biomethan zu betreiben. Ich gehe von wenig oder gar keinem Wasserstoff für saisonale Speicherung aus, man kann da, wenn doch in geringem Umfang erforderlich, beim Upgrading zu Methan das CO2 des Biogases nutzen. Kostet etwas Wirkungsgrad gegenüber der Nutzung des Wasserstoffs selber, aber man spart bei der nicht mehr notwendigen Umrüstung der Kraftwerke, dem Transport und der Lagerung.
Ja einen Kapazitätsmarkt bräuchte Deutschland auch. Plädiere ich ja auch im Artikel für. Wir brauchen den sogar noch deutlich mehr als das UK. Verstehe ich nicht, wieso das kontrovers sein soll.
—
“für ganz wenige Stunden sogar Batterien”
Das ist genau das Gegenteil eines Use Cases von Batterien. Batterien brauchen sehr viele Zyklen und sehr viele Stunden um sich zu amortisieren. Ich würde Batterien am besten überhaupt nicht als Backup denken. Das ist Regelenergie.
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“Ich persönlich halte die Umrüstung von Gaskraftwerken auf Wasserstoff für unnötig.”
Das ist die einzige Technologie zur saisonalen Speicherung, die überhaupt realisierbar ist. Wasserstoff ist das Fundament für jedes Energiesystem mit einem hohen Anteil an variablen Erneuerbaren. Ohne Speicher geht es schlicht und einfach nicht.
Hier eine Studie für den deutschen Speicherbedarf. Selbst bei nur 80% variablen Erneuerbaren brauchen wir mehrere TWh Speicherkapazität. Das lässt sich nur mit Wasserstoff darstellen.
Ob man den Wasserstoff zu Kohlenwasserstoffen wie Methan upgraded, ist ne andere Frage. So lange es keine gescheite CCS-Technologie gibt, stellt sich die gar nicht.
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“Du hattest in einem anderen Posting erwähnt, dass man Biogas auf Biomethan upgraden kann (durch Abscheidung von CO2).”
Ja, aber das ist nur eine Übergangslösung. Langfristig ist von fast allen Seiten geplant:
1. Biomasse verringern wegen schlechter Umweltbilanz
2. Verbleibende Biomasse in der Industrie für Prozesswärme verwenden
Es wäre auch bei Beibehaltung der aktuellen Mengen viel viel viel zu wenig Biomethan. Auch für die Prozesswärme sind die Mengen winzig.
Die Batterien würden nur mit den Einnahmen aus dem britischen Kapazitätsmarkt nicht gebaut werden. Die Batterien sollten natürlich viele Zyklen auflaufen, damit sie sich rechnen und nicht einmal in 5 Jahren betrieben werden. Ein großer Solarpark kann damit Solarstrom zwischenspeichern, am Markt für Regelenergie teilnehmen, die nötige Netzanschlusskapazität reduzieren und im Winter Windstrom nachts einspeichern und in den Peakstunden morgens und abends ausspeichern. Und wenn die Batterie schon steht, kann man sie dann auch berücksichtigen bei der Kapazitätsplanung für die frühe Abendspitze in der kalten Dunkelflaute.
Die von Dir zitierte Studie zum Speicherbedarf kenne ich.
Wenn man nur PV, Wind, Batterien und Wasserstoff nimmt, kann man einfach modellieren:
https://github.com/PyPSA/WHOBS
Sobald man mehr Optionen berücksichtigt sackt der Speicherbedarf über Wasserstoff weg.
https://arxiv.org/pdf/1801.05290.pdf
(Figure 7, im Szenario All Flex Central with optimal transmission ist der Wasserstoffbalken fast nicht mehr zu sehen)
Ich habe mir da sehr viele Studien zu angesehen. Eine der ersten war die Arbeit von Gregor Czisch
https://www.transnational-renewables.org/Gregor_Czisch/folien/wind21/curves_660_eu_norway_storrage_erw.htm
Seine Doktorarbeit ist schon alt, damals war PV auch noch viel teurer als heute. Auch Sektorkopplung hat er nicht berücksichtigt. Sein Modell betrachtete nur die Stromversorgung Europas. Er hat gezeigt, dass die nur mit Wind und existierendem Speicherwasser (vom Speichervolumen her, die Peakturbinenleistung müsste ausgebaut oder durch Biomasse ergänzt werden) zu machen ist, wenn man Ausgleichseffekte über große Distanzen berücksichtigt (bis etwa 3000 km, also bis nach Marokko runter im Südwesten und im Nordosten bis zur Yamal-Halbinsel in Westsibieren, das ist übrigen die Region, aus der das meiste russische Erdgas kommt, spiegelt sich auch im Namen der Pipeline wieder).
Wenn man geographische Ausgleichseffekte, Biomasse und Speicherwasser auf europäischer Ebene berücksichtigt, kommt man schon sehr weit. Studien mit viel Wasserstoff drin halten die typischerweise alle drei draußen. Die Unterschiede zwischen dem deutschen Pumpspeichervolumen und dem europäischen Speicherwasservolumen sind gigantisch.
https://www.transnational-renewables.org/Gregor_Czisch/folien/wind21/storage_hydro_power_eu_b.jpg
Norwegen alleine hat 84 TWh an Speicherwasser.
Welche Alternativen gibt es zu Wasserstoff:
1. Man muss gar nicht speichern, weil man z.B. im Sommer Strom Richtung Nordafrika und Mittlerer Osten exportiert und im Winter importiert. Saudi Arabien hat im Sommer etwa den doppelten Stromverbrauch wie im Winter.
Oder weil man Windstrom aus Spanien oder Irland importiert, während hier gerade Flaute herrscht.
2. Man speichert indirekt über Speicherwasser, man exportiert also nach Norwegen, wenn hier der Wind weht. Die Speicherkraftwerke in Norwegen und Schweden werden abgeschaltet und das Wasser, welches durch natürlichen Zufluss beständig den Speicher auffüllt, wird im Speicherbecken gelassen.
3. Man speichert indirekt, indem man Biomasse im Sommer nicht nutzt, sondern für die Dunkelflaute aufsparrt.
4. Man erzielt schon einen hohen Speichereffekt, wenn man Elektrolyseure und ähnliche Industrieprozesse (also z.B. Elektrostahlerzeugung, sprich der Prozess, der heute schon für das Einschmelzen von Schrott verwendet wird) nicht 100% der Zeit betreibt. Hat man da z.B. 20 GW an Dauerleistung, kann man mit 5 GW an zusätzlichen Anlagen die gleiche Menge an stofflichen Produkten (Wasserstoff, Elektrostahl, Aluminium etc.) erzeugen und hat 25 GW an Leistung am Netz, wenn eingespeichert werden soll und in 20% der Zeit kann man das auf 0 senken. Mit nur 5 GW an zusätzlichem Anlagenaufwand erzielt man so eine sehr große Verschiebung von 25 GW mit effektiv 100% Speicherwirkungsgrad.
Beim letzten Punkt sehe ich auch noch eine Lücke in der Literatur. Bisher habe ich das nur für Wasserstoffelektrolyseure berücksichtigt gesehen und in einem Paper für die Eisen und Stahlerzeugung.
Gregor Czisch hat also nach meinem Verständnis für Europa so gerechnet, wie Jacobson für die USA. Der setzt auch auf unzählige zusätzliche Turbinen in Wasserkraftwerken und 0 H2-Speicher. Die fachliche Kritik an Jacobson ist wenig überraschend groß. Eine Google-Suche sollte da einiges zu Tage fördern.
Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist, dass nicht nur Speicher sackteuer sind, sondern auch Netze. Es ist völlig utopisch dreistellige GW Leistung von Nordafrika oder Spanien oder Irland nach Mitteleuropa zu schicken. Selbst eine dermaßen krasse Verbindung nach Schweden/Norwegen halte ich für nicht durchführbar, zumindest nicht in irgendeinem sinnvollen Zeitrahmen. Zum Vergleich: Nordlink hat 1,4 GW.
Flexible Lasten sind in Zukunft sehr wichtig. Aber man wird das enorme Kosten- und Ressourcenproblem dadurch nicht los. Im besten Fall muss man an anderer Stelle etwas weniger bezahlen. Elektrolyseure, die nur bei Überschussstrom laufen sind halt deutlich teurer und man braucht viel mehr davon.
Die teils auf beiden Seiten unsachlich und ad hominem geführte Diskussion von Jacobson und Kritikern habe ich auch mitbekommen, wobei das mit den Spitzenlastwasserturbinen meines Wissens nach recht schnell angepasst wurde.
In vieler Hinsicht sind die Arbeiten von Czisch natürlich massiv überholt, es hat sich in den letzten zwanzig Jahren viel getan. Und auch vor 20 Jahren habe ich da ein paar Sachen kritisch gesehen, z.B. Kostenannahmen, wenn sehr viel Wind in extrem abgelegenen Gebieten zugebaut werden soll. Gerade bezüglich der Ausgleichseffekte war die Arbeit aber sehr schön gemacht. Und das mit den Spitzenlastwasserturbinen im Vortrag war nur ein Gedankenspiel. In der Doktorarbeit hat er nicht nur mit Wasser und Wind gerechnet, womit dann natürlich auch keine dreistellige GW Verbindung nach Norwegen/Schweden drin ist.
https://kobra.uni-kassel.de/themes/Mirage2/scripts/mozilla-pdf.js/web/viewer.html?file=/bitstream/handle/123456789/200604119596/DissVersion0502.pdf?sequence=1&isAllowed=y
Nordlink ist bisher die einzige direkte Leitung von Norwegen nach Deutschland. Viel läuft über Dänemark:
https://en.energinet.dk/
(etwas runterscrollen und Du siehst wieviel Strom gerade von Dänemark importiert und exportiert wird)
Auch Schweden hat eine direkte Verbindung nach Deutschland.
Beim Agorameter kannst Du Dir Exporte und Importe von Deutschland ansehen:
https://www.agora-energiewende.de/service/agorameter/chart/power_import_export/07.04.2022/10.04.2022/today/
Heute z.B. exportiert Deutschland fleißig (viel Wind und Sonne im Netz, niedriger Verbrauch), am Freitag Abend war das Saldo dagegen ein leichter Import, direkt aus Norwegen um 19:00 0,92 GW, aus Schweden 0,62 GW, aus Dänemark 2,34 GW.
Ich sehe Netzausbau auch sehr kritisch, da darf man nicht zuviel machen, ganz besonders bei den Verteilnetzen, die besonders teuer sind. Für einen optimalen Ausgleich reicht bei den internationalen Verbindungen ein relativ moderater Ausbau. Teure Leitungen müssen eine gute Auslastung haben. Für kurze Perioden von Unterdeckung oder Überschuss greift man dann auf andere Alternativen zurück, also z.B. für PV Überschuss auf Batterien oder in der Dunkelflaute auf Spitzenlastturbinen und Biomethan.
Die Arbeit von Czisch ist interessant, wenn man die Entwicklung der Szenariomodellierung über die letzten 25 Jahre betrachtet. Aktuell ist sie wie gesagt nicht. Da ist das andere von mir zitierte Paper deutlich besser:
https://arxiv.org/pdf/1801.05290.pdf
Also sorry, aber ad hominem ist doch genau Jacobsons Ding. Gibt wohl kaum jemanden, der bekannter für ad hominem Attacken auf #energytwitter ist. Er hat mich sogar auf Twitter geblockt, weil ich seine ad hominem Attacke gegen Lovering als solche benannt habe – ganz freundlich wohlgemerkt. Das ist schon ne ziemlich peinliche Art zu diskutieren…
An viele Details kann ich mich nicht mehr erinnern. Was hängen geblieben ist, ist die völlig unberechtigte Klage von Jacobson.
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