Europäische Strompreise sind auf Rekordwerten, wegen hoher Brennstoffpreise. Oder sind etwa die Strombörsen Schuld?
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Wir sind in einer selbst verursachten Energiekrise und suchen nun einen Sündenbock.
Fast niemand will den Strommangel als eigentliche Ursache für die Strompreisentwicklung benennen.
So klingt das zumindest in aktuellen Nachrichten zu den unaufhaltsam steigenden Strompreisen.
So soll nun die Preisfindung nach Merit-Order an der Strombörse EPEX Spot angeblich die Preise treiben.
Das ist falsch, schon allein weil EPEX für den europäischen Stromhandel nur wenig bedeutend ist.
Trotzdem gehen sogar Politiker in Führungspositionen diesem Narrativ auf den Leim.
3 größte europäische Strombörsen: EEX, EPEX & Nord Pool
DIE europäische Strombörse gibt es nicht. In Europa können wir an mindestens 30 Strombörsen handeln. Die sind in der Vereinigung der europäischen Energiebörsen (EUROPEX) organisiert.1
Die meisten davon sind allerdings nur auf ein Land begrenzt mit geringem Einfluss auf europäische Strompreise, zum Beispiel die Albanian Power Exchange.
In den letzten beiden Jahrzehnten fand allerdings eine Monopolisierung statt mit wachsendem Handelsvolumen bei den länder-übergreifenden Strombörsen:
- 27 Länder European Energy Exchange (EEX) mit Sitz in Leipzig
- 16 Länder Nord Pool mit Sitz in Oslo
- 13 Länder European Power Exchange (EPEX Spot) mit Sitz in Paris
Dies sind die drei größten Strombörsen in Europa. Sie sind bestimmend für europäische Strompreise, aber mit deutlich unterschiedlichen Handelsvolumina:
- 4.568 TWh am EEX Terminmarkt2
- 621 TWh am EPEX Spotmarkt3
- 482 TWh am Nord Pool Termin- und Spotmarkt4
(Handelsvolumen Sell+Buy/2)
Zu dem Handelsvolumen an den Börsen kommen noch OTC-Kontrakte, die wohl immer noch drei Viertel des gesamten Handelsvolumens ausmachen.5 OTC-Preise orientieren sich aber am Börsenpreis.
Dass der Day-Ahead-Handel nicht den europäischen Strommarkt dominiert, sollte anhand des Handelsvolumens von nur knapp 9% auf einen Blick klar werden.
Zeitlich ist der Day-Ahead-Handel außerdem zwischen Terminmarkt und Intraday-Markt angesiedelt, die beide nach normalen Marktmechanismen funktionieren.
Merit-Order an der Strombörse EPEX Spot
An europäischen Strombörsen werden Preise meistens anhand eines normalen Marktmechanismus gebildet, also durch Zusammenführung von Buy- und Sell-Geboten, wie zum Beispiel am Aktienmarkt.
Eine Ausnahme ist der Day-Ahead-Handel an der EPEX Spot mit knapp 9% Handelsvolumen. Hier kommt ein spezielles Preisfindungsmodell zum Einsatz, die sogenannte Merit-Order.
Bei der Merit-Order geht die Preisfindung über eine festgelegte Einsatzreihenfolge. Verfügbare Kraftwerke werden sortiert nach variablen Kosten, also Grenzkosten:6
- 0 Ct/kWh Wind & Solar (Einspeisevorrang)
- 1 Ct/kWh Abfall
- 2 Ct/kWh Kernenergie
- 6-7 Ct/kWh Braunkohle
- 13-14 Ct/kWh Erdöl
- 23-28 Ct/kWh Steinkohle (bei Verfünffachung der Brennstoffkosten von 2021)
- 63-74 Ct/kWh Gas & Dampf (bei Verfünffachung der Brennstoffkosten von 2021)
Es werden zuerst diejenigen Kraftwerke mit den niedrigsten Grenzkosten aufgerufen. Nur wenn noch mehr Strom nachgefragt wird, kommen Kraftwerke mit höheren Grenzkosten zum Zug.
Das eingesetzte Kraftwerk mit den höchsten Grenzkosten bestimmt den Marktwert für eine bestimmte Zeiteinheit. Auch alle anderen Kraftwerke erhalten diesen Marktpreis als Vergütung.
Am EPEX Spotmarkt werden vor allem Wind, Solar und Erdgas gehandelt. Wenn Wind und Solar die Nachfrage nicht decken können, sind deshalb oft die hohen Kosten von Gaskraftwerken bestimmend.
Kohle- und Kernkraftwerke bieten nur Restmengen am Spotmarkt an. Sie verkaufen ihren Strom Monate oder gar Jahre im Voraus an den Terminmärkten. Dort sind höhere Marktwerte üblich.
Schuldfrage: Merit-Order als Preistreiber?
Dieser Day-Ahead-Handel im EPEX Spotmarkt soll nun angeblich Preise treiben, also
durch die Merit-Order zu Wucher führen.
Diese Behauptung wiederholen sogar Witschaftsminister Habeck, Finanzminister Lindner und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen solche Aussagen.
Siehe dazu auch den Twitter Thread von Energiemarkt-Experten Lion Hirth als Antwort auf von der Leyen:
Merit-Order als Angebotskurve in einer Marktwirtschaft
Marktpreise stellen sich in einem Marktgleichgewicht ein über die Angebotskurve und Nachfragekurve. Diese Angebotskurven gibt es in jedem Markt.
Was in jedem normalen Marktsystem implizit durch Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage passiert, macht das Merit-Order-Prinzip explizit.7
Ebenso kosten in jedem freien Markt die gleichen Produkte gleich viel. Bäcker A mit 10 Cents Erzeugungskosten verlangt nicht weniger für ein Brötchen als Bäcker B mit 20 Cents Erzeugungskosten. Ansonsten käme es zu Arbitrage.
Die Abrechnung nach Merit-Order unterscheidet sich also nicht grundsätzlich vom normalen Preisfindungsprozess in einer Marktwirtschaft nach Angebot und Nachfrage.
Durch das Berücksichtigen von Grenzkosten führt die Merit-Order sogar zu günstigeren Preisen. Grenzkosten sind per Definition niedriger als Vollkosten plus Profite.
Solar, Wind und Restmengen von konventionellen Kraftwerken, die am Spotmarkt angeboten werden, haben sogar Grenzkosten gegen 0.
Alternativen zum freien Markt: Planwirtschaft, Subventionen, Verbote
Die Preisfindung am Markt ist nicht alternativlos. Vor der Liberalisierung der europäischen Strommärkte vor rund 25 Jahren hatten wir Planwirtschaften mit entsprechend niedrigeren Preisen. Bei einem Grundbedürfnis kann das durchaus eine gute Idee sein.
Neben der kompletten Abschaffung des Marktes lässt sich der freie Markt auch durch planwirtschaftliche Eingriffe einschränken. Das geht zum Beispiel über Subventionen, Steuern oder Verbote.
Das iberische Modell zum Beispiel quersubentioniert Gaskraftwerke mit den Gewinnen aus anderen Kraftwerken. Dadurch lässt sich ein niedriger Preis als bei uns festlegen – mit Nebenwirkungen.
Dadurch steigt allerdings der Gasverbrauch über das normale Marktgleichgewicht hinaus, was das Gas noch weiter verknappt und neue Kosten durch höhere Gaspreise verursacht.
Darüber hinaus sind Eingriffe in den Markt nie ohne Nebenwirkungen. Wenn Gewinne statt an Investoren in einen Subventionspool fließen, wird weniger in Neubauten investiert. Und wir brauchen in den nächsten Jahrzehnten jede Menge neue Kraftwerke.
Letztendlich sind solche Maßnahmen im besten Fall nur eine etwas effektivere Verwaltung von Mangel. Die immer noch hohen Preise werden erst dann bezahlbar, wenn wieder genug Strom zur Verfügung gestellt wird.
Fazit: Merit-Order vs Markt vs Planwirtschaft
Es ist völlig egal, ob man die Merit-Order oder normale Marktmechanismen verwendet. Wenn Strom knapp ist, dann sind die Strompreise hoch.
Selbst planwirtschaftliche Eingriffe können am grundsätzlichen Strommangel nichts ändern. Sie können bestenfalls den Mangel besser verwalten.
Es hilft nichts, Symptome des Strommangels zu bekämpfen. Es muss der Strommangel selbst bekämpft werden, indem günstige Erzeuger ans Netz kommen oder die hohen Brennstoffpreise von Gas und Kohle gesenkt werden.
Wenn Habeck heute zum Beispiel die Laufzeitverlängerung der 6 deutschen Kernkraftwerke beschließen würde, würde die Aussicht auf mehr Erzeugungsleistung sofort die Preise am Terminmarkt für 2023 senken.
Wenn die Politik lieber Symptome bekämpfen will statt Ursachen, wird diese Energiekrise nur noch schlimmer…
Quellen
- Our Members EUROPEX (2022)
- EEX Group Pressemitteilung – Handelsvolumina 2021 EEX (2022)
- EPEX SPOT Annual Market Review 2021 EPEX (2022)
- Nord Pool Announces 2021 Trading Figures Nord Pool (2022)
- Strombörse: So funktioniert der Strommarkt in Deutschland E.ON (2022)
- EWI Merit-ORder Tool 2022 EWI (2022)
- The Merit Order Model and Marginal Pricing in Electricity Markets Hirth (2022)